Während mich die Dunkelheit umfing, fragte er mich, ob ich bereit sei, all dies loszulassen und mit ihm ins Unbekannte zu entschwinden. War ich nicht. »Du erzählst ihm die Geschichten nicht, um ihn am Leben zu halten«, behauptete er. »Sondern weil du dir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen kannst. Es wird ein egoistischer, trauriger Akt der Selbsterhaltung sein.« Schahrasad wollte den Sultan nicht von seinem Wahn befreien, weil sie ihn liebte. Sie wollte einzig und allein ihren Kopf vor dem Schwert des Henkers bewahren.
Die Welt um mich herum war dunkel, sodass ich nur das Licht in den Augen des Todes sah. Ich streckte die Arme aus und nahm das Gesicht des Todes in meine Hände. Ich drückte einen blutigen Kuss auf seine weißen Zähne und flehte ihn an, mich hierbleiben zu lassen.
In diesem Augenblick streifte der Tod den unschuldigen jungen Mann von mir ab. Es war ein schmerzhafter Vorgang; es fühlte sich an, als würde ein Teil meiner Seele aus mir herausgerissen werden. Der Tod lächelte mich an und entnahm meinem Innern eine geisterhafte Gestalt, einen Jungen, der ich früher einmal war und der nun ein Fremder für mich ist.
Dieser fremde junge Mann besucht mich manchmal, wenn ich hier mit dir im Bett liege. Er ruft mir längst Vergangenes ins Gedächtnis. Er flüstert mir Gedichte ins Ohr, während ich darauf warte, dass du aufwachst, damit ich weiß, dass du noch lebst.
»Erzähl mir eine Geschichte«, bittest du mich jetzt. Der Tod steckt den Kopf durch den Türspalt; in seinem Umhang erkenne ich den Fremden. Er wirkt glücklich. Er hat seinen Schmerz in mich hineingegossen und diese Welt gegen einen unschuldigen Himmel eingetauscht. Sein Schmerz in mir lässt sich nicht unterdrücken. Er meldet sich von Zeit zu Zeit, pocht laut in meinen Knochen. Er fühlt sich an wie das Schreien eines Kindes, das von seiner Mutter verlassen wurde. Manchmal schrillt er in meinen Kopf. Er knallt gegen meine gebrochene Rippe und prallt an meine ausgekugelte Schulter. Er reißt mich weg von dir und entführt mich an dunkle Orte, die ich nicht mag, doch das behalte ich für mich.
Ich lächle dir zu, mein Liebster, und komme deiner Bitte nach. »Es war einmal ein Mann, der erzählte seinem Liebsten eine Geschichte. Sie trug den Titel ›Der schönste Selbstmord‹ und handelte von einer Frau namens Evelyn McHale.«
Evelyn McHale war bereits tot, als sie auf dem Auto aufschlug. Während sie geräuschlos vom sechsundachtzigsten Stock des Empire State Building fiel, verließ ihre Seele ihren Körper und stieg rasch nach oben, folgte ihrem weißen Halstuch – dem Halstuch, das sie, bevor sie sprang, über die Kante des Gebäudes geworfen hatte.
Ein Geist kommt anscheinend selten allein. Während ich dir von Evelyn erzähle, befreit sich ein weiterer Geist aus den Fängen des Todes. Die Frau steht in der Ecke unseres Schlafzimmers und lauscht meiner Geschichte über eine Frau, die sich wie sie von der Welt verabschiedet hat.
Ich kenne den Geruch ihrer Kleider; ich kenne ihre tief liegenden Augen. Der Geist meiner Mutter sagt keinen Ton. Ich höre ihre Stimme, sie kommt von unter dem Bett, wo sie sich wie ein Monster versteckt. »Ich habe dich neun Monate lang im Leib getragen«, wiederholt die Stimme, doch der Geist schweigt immer noch. »Du bist ein Teil von mir.«
Ich wurde in Damaskus geboren und war ein einsames Kind. Schon vor meiner Geburt sagte man mir den bösen Blick nach. An einem ihrer guten Tage erzählte mir meine Mutter, als sie zum ersten Mal spürte, wie ich gegen ihre Bauchdecke trat, habe eine alte unverheiratete Tante von mir ihren Bauch gestreichelt. »Er wird ein großer und starker Junge werden«, sagte sie mit neidisch funkelnden Augen. »Du solltest gut auf ihn aufpassen.« Von da an hatte meine Mutter Schwangerschaftsbeschwerden. Nach meiner Geburt war ihre Milch trocken und salzig. Ich war ein schwächliches Kind, wurde leicht schikaniert, war einsam.
Sie sieht mich vorwurfsvoll an, und ich fröstle. Ich kann mich viel zu gut an dich erinnern, Mutter. Du raubst mich meinem lauschenden Liebsten, reißt mich aus dem Bett und wirfst mich in das eisige Loch der Erinnerung. Dort sehe ich dich in der Ecke unseres verstaubten Wohnzimmers sitzen und auf meine Heimkehr aus der Schule warten, in der Hand das Strickzeug. Du machst gerade einen blau-gelben Winterpullover, der potthässlich ist. Trotzdem werde ich ihn tragen müssen. Das Wohnzimmer ist spärlich beleuchtet und versinkt unter einer Staubschicht, im Fernsehen läuft eine bescheuerte syrische Seifenoper. Ich hasse den Staub, ich hasse die Seifenoper, ich hasse den Pullover, und am meisten hasse ich dich.
Die Luft ist zum Schneiden; die Fenster wurden seit Wochen nicht geöffnet, und sobald ich mit meiner schweren Schultasche durch die Tür trete, habe ich das Gefühl zu ersticken. Du starrst mir entgegen, siehst die Finsternis in meinen Augen und weißt, wie sehr ich mich vor dir fürchte. Du beginnst zu lächeln; aus dem Lächeln wird ein Lachen, als würdest du dich an der Angst weiden, die du mir einflößt. Dein Lachen dringt durch das ganze Haus, bis hin zu den Schulbüchern in meinem Zimmer, meinen alten Kassetten und den Fotos, die ich vor dir verstecke.
»Hallo Mutter«, sage ich.
»Fick dich«, antwortest du.
Sie hörte den Aufprall nicht, als ihr Körper auf die vor dem Gebäude geparkte Cadillac-Limousine schlug; sie sah nicht, wie sich die Menschen um ihren toten Körper scharten. Sie sah sich nicht selbst, in gewohnt eleganter Haltung, die Füße an den Knöcheln gekreuzt, die Perlenkette um den Hals drapiert, die weißen Handschuhe blitzsauber. Sie spürte nicht das Metall des Wagens, das sich um sie schmiegte wie eine Wolke in der Fantasievorstellung eines Kindes; sie ärgerte sich nicht darüber, dass sie unterwegs ihre High Heels verloren hatte.
Wie eine grüne Muräne schleichst du dich mitten in der Nacht in mein Zimmer. Deine Kleider sind schlampig. Deiner Liebe fehlt jede Eleganz. Mit einer Hand drehst du langsam den Türknauf, in der anderen hältst du ein Küchenmesser. Meine gut trainierten Sinne wecken mich auf, meine Augen gewöhnen sich in Sekundenschnelle an die Dunkelheit, und ich sehe dich. Du stehst vor mir, groß und mächtig, wie eine Statue, die Gift und Galle spuckt.
»Deine Augen glühen in der Dunkelheit wie die eines Dämons«, sagst du zu mir, und ich springe aus dem Bett und schubse dich weg. Im Fallen reißt du zwei Regalbretter mit meinen Büchern herunter, meinen einzigen Freunden auf der Welt, und ich ergreife die Flucht. Barfuß und in Unterwäsche stürze ich zur Tür.
»Komm zurück, du kleiner Scheißer!« Ich springe die Treppe hinunter, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Mein vierzehnjähriges Herz pumpt Blut durch meinen jungen Körper. Meine Muskeln krampfen sich vor Angst zusammen, und Tränenströme laufen mir übers Gesicht. Ich bin voller Angst, verstört. Für dein Kind bist du eine Göttin, und eine Göttin ist zu allem fähig. Du bist ein Diktator, der in meinem Blut badet, und ich bin schwach, kraftlos und wüsste nicht, wie ich mich gegen ein Messer verteidigen sollte.
Ich höre dich immer noch rumoren, als du wie ein Tiger im Käfig durch das Haus streifst und deine Einsamkeit hinausbrüllst. Eilig laufe ich vorbei an den geschlossenen Geschäften zu meinem Lieblingsversteck hinter den Mülltonnen an der Kreuzung, wo mich eine öffentliche Treppe vor den Blicken der Passanten und dem kalten Nachtwind schützt. Ich vertreibe mir die Zeit damit, Autos und Sterne zu zählen, warte darauf, dass dein jüngster Ausbruch vorübergeht.
In meinem Unterschlupf breche ich laut in Tränen aus. Ich habe das Gefühl, mich in freiem Fall zu befinden, von der Kante in einen gierigen Schlund gestoßen. Du bist eine Göttin, und ich wurde von meinem Glauben getäuscht. Dein Herz sollte eigentlich Liebe zu deinen Kindern hervorbringen, so wie deine Brüste Milch für sie hervorbringen sollten.
Zwischen den Gebäuden zu beiden Seiten unserer schmalen Straße, die sich aneinander lehnen wie alte Freunde, muss ich eingeschlafen sein. Nicht zum ersten Mal. Am Morgen rapple ich mich auf und gehe nach Hause, den Blicken der neugierigen Nachbarn und Ladenbesitzer ausweichend. Ich schleppe meinen müden Körper die Treppe hinauf. Am Tor