Die Wäscheleinen-Schaukel. Ahmad Danny Ramadan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ahmad Danny Ramadan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944666754
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entführt wird. Wir rangen, kämpften, deine Zähne gruben sich in meine Haut, bis du mir endlich glorreich und blutig deine Seele offenbaren konntest. Du hast gestöhnt und das Stöhnen sofort unterdrückt, wie ein standhafter Häftling, der seinen Wärtern und Folterern den Sieg nicht gönnt. Als du in mich eindrangst, wurde ich stumm, als hätte mein gesamter Körper kapituliert. Ich klammerte mich an dich wie ein Ertrinkender. Schließlich wandtest du dich von mir ab, mit reumütigem Blick und Schuldgefühlen, die du nur mit dir selbst ausmachst. Außer Atem kehrte ich von einer Reise zu deinen innersten Gedanken zurück.

      Als wir die Badezimmertür öffneten und zurück ins Bett gingen, war das Knattern der Maschinengewehre längst verklungen.

      Nur in diesen Augenblicken konnten wir ganz wir selbst sein, nackt in den Armen des anderen, beinahe blind für die Welt um uns herum. Außerhalb meines Schlafzimmers mussten wir auf jeden Schritt und jede Geste achten, hatten Angst vor dem Krieg, Angst vor unseren Familien, Angst vor allem außer uns beiden.

      »Hakawati, geh nicht«, sagtest du, als ich ein paar Tage später aufstand, um mich anzuziehen. Du hast mit nacktem Oberkörper auf meinem Bett gesessen, und wir konnten die Stimmen unserer Freunde hören, die gerade munter wurden. Was war noch mal der Grund gewesen? Hatten wir am Abend zuvor eine Geburtstagsparty gefeiert, und alle waren so lange geblieben, dass der Heimweg quer durch Damaskus zu gefährlich gewesen wäre? Ich erinnere mich nicht mehr. Jedenfalls spielten wir die ganze Nacht Karten und tranken billigen Wodka. »Wir sind acht Leute im Haus, und ich habe nichts zum Frühstücken da«, sagte ich und suchte nach einem sauberen T-Shirt. »Ich bin in zehn Minuten zurück, ich laufe nur eben zum Laden gegenüber.«

      »Ich komme mit«, sagtest du, und ich lächelte. Du strecktest mir deine Hand entgegen und ich dir meine. Unsere Finger berührten sich eine Sekunde. Aus der Ferne hörten wir eine kleine Explosion, aber das kümmerte uns nicht. Wir waren schließlich in Damaskus. Du packtest meine Hand und zogst mich zurück zum Bett, ich lachte, rief abwehrend deinen Namen, dann gab ich nach, du öffnetest den Reißverschluss meiner Hose, ich streifte deine herunter. Wir umschlangen einander mit den Armen. Deine Lippen verschmolzen mit meinen, und wir sackten aufs Bett.

      »Hier drin wird’s ganz schön heiß«, sagte ich zu dir, und du hobst die Hand zum Fenster. Erst dachte ich, du hättest es zu schnell aufgezogen und dabei die Scheibe zerbrochen. Aus dem Augenwinkel sah ich Flammen, sie breiteten sich über die Straße aus wie eine jäh erblühende Feuerrose. Ein donnernder Lärm dröhnte in meinen Ohren, und Glas- und Holzstücke regneten auf mich herab. Ich packte dich, und wir rollten uns auf den Boden, Glasscherben bohrten sich uns in den Rücken. Ich schrie gellend, aber ich hörte nicht, wie ich schrie.

      Dann war die Explosion auf einmal vorbei, und es herrschte wieder Stille, sozusagen die Ruhe nach dem Sturm.

      »Alles in Ordnung?«, fragte ich dich, deine Augen waren weit aufgerissen. »Ja. Und mit dir?« Ich musterte kurz dein Gesicht, dann stand ich auf. Geblendet ging ich zu dem kaputten Fenster. Ich warf einen Blick hinaus, drehte mich zu dir um und sagte: »Das war eine Autobombe, direkt gegenüber. Direkt vor dem Laden.«

      Doch all das ist jetzt nur noch eine ferne Erinnerung. Diese Erinnerungen sind mein einziger Trost, während ich hier in diesem Bett liege, im ersten Stock unseres denkmalgeschützten Hauses in einer beschaulichen, stillen Ecke von Vancouvers West End, ein alter Mann von fast achtzig Jahren, der versucht, die Tage des Terrors in Syrien zu vergessen, ohne die Erinnerungen an unsere Liebe zu verlieren, die wir uns gemeinsam geschaffen haben.

      Ich habe unzählige schlaflose Nächte damit verbracht, deine Atemzüge zu zählen, während du dich an die letzten Reste von Leben in dir klammerst. Deine wunderschöne Brust, inzwischen mit weißen Haaren bedeckt, bewegt sich rhythmisch auf und ab wie die Wellen am Strand von Beirut, wo du mir einmal das Leben gerettet hast. Damals war dein Brusthaar schwarz, ein Inbegriff der Männlichkeit auf deinen Muskeln. Du hast mich aus der Ferne angeblickt und gelächelt. Ich gestattete meinem Blick, über deinen Körper zu wandern, und rief mir deine Konturen und das Gefühl deiner Haut in Erinnerung, bevor ich zurücklächelte.

      Siebenunddreißig Jahre lang war ich der Schwache; ich bin derjenige, der ständig krank wird, sich ins Bett verkriecht und keine Berührungen erträgt. Ich bin derjenige, der jammert, wenn er sich den Zeh an dem verdammten Tischbein anstößt. Ich bin der mit den Knochenbrüchen und der ausgekugelten Schulter. Und jetzt kommst du mir beim Sterben zuvor? Ich fühle mich betrogen, ja, sogar verraten. Dabei habe ich mich doch so angestrengt! Damals am Strand habe ich dir versprochen, das Rauchen aufzugeben und beim Whisky kürzerzutreten. Und schau mich jetzt an, ich bin ein alter, mürrischer Mann, der mit einem Glas in der Hand und einer Zigarette im Mund herumläuft, während du auf dem Totenbett liegst.

      Du musstest ja unbedingt eine Million Mal diesen verdammten syrischen Spruch sagen: »Tou’borni inschallah«, mögest du mein Grab schaufeln. Es ist scherzhaft gemeint, und ich antworte darauf mit: »Baid al-shar«, möge das Böse fernbleiben. Was soll daran liebevoll sein, wie kamen unsere Großväter und davor ihre Großväter nur darauf? Man fordert den Tod nicht ungestraft heraus, und offenbar hat der Tod einen makabren Sinn für Humor.

      Auch dein Gesicht verrät Überraschung. Du stellst dir dieselben Fragen wie ich. Warum ich, scheinst du zu denken, warum hat sich der Tod ausgerechnet mich herausgepickt? Der Tod ist Willkür schlechthin. Einmal starb vor unserem Haus hier im West End eine Frau mit ihren Kindern. Sie wurden von einem Auto überfahren. Du hast gesagt, du hättest gesehen, wie ihr Geist ihren Körper verließ, während sich die Menschen um sie scharten. Ich konnte ihre Seele nicht sehen, die deinen Worten nach leuchtete wie tausend Sonnen. Ich machte deine Medikamente für deine Wahrnehmung der Realität verantwortlich; sie stürzten dich immer mehr in Verwirrung.

      Es ist jetzt fast vierzig Jahre her, dass wir Syrien 2012 verlassen haben. Wir wurden älter in einer Stadt, in der wir nicht geboren wurden. Die Luft, die wir atmeten, war nicht für uns bestimmt. Wir bugsierten uns gegenseitig durch ein Leben, das wir nicht erwartet hatten. Tief im Innern bewahrten wir die Erinnerungen an Syrien, während wir einander dabei zusahen, wie uns die Haare ausfielen, wir Falten bekamen und wie aus jungen, ruhelosen Männern Getriebene wurden. Wir führten hier in Kanada ein einfaches Leben; geradezu ereignislos, als würden sich all unsere Erlebnisse auf die ersten vierzig Jahre unserer Existenz konzentrieren. In den mehr als dreißig Jahren danach standen wir weiterhin im Bann unseres alten Lebens und vergaßen, das neue voll und ganz auszuschöpfen. Jetzt sind wir zwei alte Männer am Rand des Vergessens, bereit, in den Abgrund des Vergangenen zu springen.

      Während ich auf deinen letzten Atemzug warte, schwebe ich selbst an der Schwelle des Todes: Ich habe das Gefühl, in einem ruhigen Meer auf dem Rücken zu treiben, die Sonne scheint mir in die Augen, und ich möchte mich den Wellen ergeben – Welle um Welle trägt mich ins Unbekannte. Ich kann den Sandstrand am Horizont nicht sehen, aber ich akzeptiere die kühlen Fluten; sie laden mich ein in die dunklen Tiefen der See. »Du gehörst zu den Wesen der Kälte«, sagen die Stimmen. Meine Nervenenden sind freigelegt wie bei einem Verbrennungsopfer, und die Fluten sind meine Rettung. »Aber ich kann noch nicht gehen«, flüstere ich matt und kraftlos zurück. »Er braucht mich noch.« Die Stimmen lassen nicht locker, und es fühlt sich wie das Richtige an, mich einfach der Kälte zu überlassen. Mein müdes Ich dem letzten Abgrund anheimzugeben. Doch ich widersetze mich, und die Wellen werden wütend, werfen mich ans Ufer und lassen mich zitternd und nach Luft ringend im Sand zurück.

      Deine Medikamente machen dich in letzter Zeit nervös; du sprichst kaum mit mir und schläfst fast nicht und verlangst ständige Aufmerksamkeit. Nur in meinen Geschichten findest du Erleichterung. Dabei hast du sie all die Jahre mit mir ignoriert; sie waren dir zu detailreich, oft wolltest du sie nicht hören oder du unterbrachst mich dauernd. Jetzt wachst du in den frühen Morgenstunden auf, hievst dich mühsam hoch, schaltest das Licht ein und weckst mich auf. »Ich kann nicht schlafen. Erzähl mir eine Geschichte«, sagst du. »Ich habe deine Geschichten immer geliebt.«

      Du wirst zu meinem Schahriyar, und ich zu deiner Schahrasad. Der Tod ist der Henker vor der Tür; er wird mich köpfen, wenn meine erschöpften Gehirnzellen deinem Wunsch nach Unterhaltung nicht nachkommen. Wir sind die Reinkarnation von drei Charakteren, die wir nur allzu gut kennen. Schahrasad rettete ihr Leben,