Die Stimme des Königs. Brad Huebert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Brad Huebert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567096
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gelernt hatte. Vielleicht war er im symbolischen Sinne aus der bösen Stadt gekommen, wie der Junge so hartnäckig behauptet hatte. Und dennoch, Basileia war kein bisschen symbolisch, sondern real.

      In dem Augenblick bemerkte Ivan, dass ein Kristallkelch auf dem Tisch stand, neben den jemand eine schön verzierte Karte gelegt hatte. Er nahm den Kelch in die eine und die Karte in die andere Hand. Es war eine persönliche Nachricht vom König.

      »Ivan, trinke auf mich. Ich hoffe, dich bald in der Neuen Stadt zu sehen.«

      Unterzeichnet war die Karte mit »der König«.

      Ivans Herz flatterte aufgeregt. Eine persönliche Nachricht vom König. Das bedeutete doch, dass er den König wirklich treffen und dann wieder nach Hause zurückkehren würde. Andererseits wäre es ja vielleicht auch schön, noch einmal zusammen mit seiner Familie nach Basileia zu kommen, wenn sich diese ganze Verwirrung erst einmal geklärt hatte und er etwas genauer wusste, was hier eigentlich los war – als Touristen natürlich. Es war ein schöner Ort zum Besichtigen, wäre aber niemals der Wohnort seiner Wahl gewesen.

      Die Karte mit der Nachricht gab Ivan ganz neue Energie. Er saß am Tisch, genoss das frische Wasser aus dem Kelch und schlug dann wieder das Buch auf, um dort weiter zu lesen, wo er aufgehört hatte. Regel um Regel ging er durch, machte sich Notizen und bat um den Segen des Königs in der Hoffnung, dass er in der Lage sein würde, all die Gebote zu halten, damit der König mit ihm zufrieden war. Diese Tatsache überwältigte ihn aber auch. Als er einen weiteren Schluck Wasser trinken wollte, stellte er zu seinem Unmut fest, dass das Wasser weg war. Schade. Es war das erfrischendste Wasser gewesen, das er jemals getrunken hatte.

      Er schob seinen Stuhl vom Tisch zurück und beschloss einen Spaziergang zu machen, um sich die Zeit zu vertreiben und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Der Gang durch den Park tat ihm gut, obwohl er sich im goldenen Licht des Spätnachmittags seltsam erschöpft und ausgelaugt fühlte. Ihm fiel außerdem auf, dass die Sonne nicht mehr ganz so hell und strahlend zu leuchten schien wie bei seiner Ankunft. Und seltsamerweise kamen ihm auch die Gebäude nicht mehr so strahlend vor. Etwas ungläubig schüttelte er den Kopf. Vielleicht bildete er sich das alles ja auch nur ein. Schließlich hatte er einen langen, ereignisreichen und folgenschweren Tag hinter sich. Vielleicht würde er ja am nächsten Morgen zu Hause in seinem Bett aufwachen. Es war doch auch absolut möglich, dass sich sein gesamtes Abenteuer als lebhafter Traum entpuppen würde, den ihm sein Pastor ja dann vielleicht nächste Woche würde deuten können.

      Während er so dahin ging, versuchte er sich zu erinnern, was er aus dem Buch der Pflichten schon gelernt hatte. Andauernd sah er in seiner unmittelbaren Umgebung etwas, das ihn an eine Regel erinnerte – ein Kind in Not, eine Frau, die Hilfe brauchte –, und meistens handelte er dann sofort und tat gern und bereitwillig, was der König in der jeweiligen Situation von ihm erwartete. Es war eigentlich genau so, als würde er das befolgen, was in der Bibel stand.

      Doch das, was um ihn herum geschah, kam ihm wie ein Fass ohne Boden vor. Überall war Not und Bedürftigkeit, und für jeden und alles gab es ein Gebot. Manchmal kamen ihm zwei oder drei Regeln gleichzeitig in den Sinn, und dann wusste er oft nicht, welche er jetzt befolgen sollte. Ein paar Mal war er dann wie gelähmt und tat gar nichts. In seinem Innern staute sich erst langsam Frust an und dann machte sich Mutlosigkeit breit. Für ihn war so vieles doch noch neu. Er war einfach noch nicht genügend Basileianer für das alles. Es war unmöglich, sich an jedes Gebot der Regel zu halten, und es dauerte gar nicht lange, da kam er zu dem Schluss, dass es fürs Erste reichte und er erst einmal Feierabend machen würde. Inzwischen war die Sonne untergegangen, sodass ihm sein Entschluss auch vernünftig vorkam – es sei denn, es gab eine Regel dagegen. Wenn dem so war, dann war Ignorieren sein letzter Versuch, um einigermaßen bei Laune zu bleiben.

      Als er erschöpft und deprimiert wieder bei dem Haus ankam, das ihm zugewiesen worden war, kniete Ivan am Bett nieder und murmelte ein langes, tränenreiches Gebet in die Bettdecke. Darin sagte er dem König, wie leid es ihm täte, dass er die Punkte der Regeln nicht alle gewissenhaft hatte einhalten könne. Insgeheim hoffte er, dass er sich dadurch nicht die Chance auf eine möglichst schnelle Rückkehr nach Hause verbaut hatte, und beschloss, am nächsten Morgen sehr früh aufzustehen und weiter in den Regeln zu lesen, damit er im Laufe des Tages dann bessere Chancen hatte, die einzelnen Punkte auch wirklich einzuhalten. Mitten in seinem Gebet, immer noch vor der Bettkante kniend, fiel Ivan in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von Kakos, aber seltsamerweise kam es ihm gar nicht wie ein Alptraum vor, sondern fühlte sich eher wie Erleichterung an.

      Ivan wachte davon auf, dass ganz in der Nähe seines Fensters ein Hahn krähte. Der durchdringende Ruf dieser Kreatur vibrierte wie ein elektrischer Schlag seine Wirbelsäule hinauf und wieder hinunter.

      »Ja, ja, ich steh’ ja schon auf!« Ivan sprang aus dem Bett und verhielt sich so, als müsste er bei dem Vogel Meldung machen. Nachdem er sich gereckt und gestreckt hatte und sich nicht mehr ganz so steif fühlte, sank ihm der Mut. Er war immer noch in Basileia. Einen Augenblick später erinnerte er sich an sein Versprechen, früher aufzustehen, um zu beten und aus dem Buch zu lernen. Ivan ging wieder auf die Knie, die bereits wund waren von all dem Knien und Beten am Vortag, und wollte gerade den Kopf zum Gebet senken, als es an der Tür klopfte.

      »Was ist denn?« Ivan stapfte zur Tür, um zu schauen, wer dort war. Er machte die Tür weit auf und sah die Marktfrau vom Vortag mit einem Korb voller frischer, grüner Äpfel auf der Veranda stehen.

      »Guten Morgen.« Auf ihrem Gesicht lag das gewohnte Lächeln.

      »Hallo.«

      »Störe ich gerade? Ich wollte dir nur noch ein paar Äpfel vorbei bringen.«

      »Ivan schaute hinter sich auf das Bett und sein immer noch ungeöffnetes Buch der Pflichten. Sein Blick ging zu Boden. »Nein, ist schon in Ordnung. Komm herein.«

      »Wie ich sehe, bist du immer noch hier. Wie ist es dir denn gestern noch ergangen? Hast du in dem Buch gelesen?«

      Ivan führte sie ins Haus, setzte sich dann an den Tisch und stellte den Korb darauf ab. Er rieb sich die Augen. »Ich habe ein wenig darin gelesen. Genug jedenfalls, dass ich bis zum Schlafengehen gestern Abend beschäftigt war.«

      Ihre Augen strahlten. »Das ist ja wunderbar!«

      »Wunderbar? Ich habe total versagt, und außerdem bin ich völlig erledigt.«

      »Na ja, es war ja auch dein erster Tag hier.«

      »Ja, wahrscheinlich lag es daran.« Ivan rutschte voller Unbehagen auf seinem Stuhl hin und her.

      »Du bist noch jung im Glauben, Ivan. Du wirst schon noch aufholen.« Sie sah bei diesen Worten sehr überzeugt aus.

      Aber Ivan wollte gar nicht aufholen. Er wollte nach Hause. Er wollte sein gewohntes Leben zurück haben. »Und was ist mit dir? Du bist doch schon weiter im Glauben und reifer. Hältst du dich denn immer hundertprozentig an die Regeln?«

      Die Frau machte eine kurze Pause, senkte die Stimme und beugte sich ganz nah zu ihm vor. Sie schaute sich misstrauisch um, als befürchtete sie, jemand könnte sie belauschen, und flüsterte dann: »Ich sag dir mal was.« Ihr Tonfall war monoton und hatte etwas Verschwörerisches. »Eigentlich reden wir ja nicht darüber, aber Tatsache ist, dass sich niemand hundertprozentig an die Regeln hält.«

      »Wirklich? Niemand?«

      »Genau. Aber mit der Zeit lernt man hier ein paar Tricks, wie man damit durchkommt.«

      »Tricks?«

      »Na ja, also nicht direkt Tricks. Vielleicht sollte ich lieber sagen, dass wir die Gewichtung hin und wieder ein wenig verschieben. Ist dir aufgefallen, dass einige Regeln für jeden erkennbar und dadurch auch offensichtlicher und auffälliger sind, andere dagegen eher mit unserem Innern zu tun haben und nicht gleich so deutlich zu merken?«

      »Ja, das ist wohl so, aber ...«

      Sie ließ ihn nicht ausreden. »Konzentrier’ dich möglichst auf die sichtbaren, Ivan. Auf das, was die Leute sehen können. Wenn du die Regeln einhältst, deren Auswirkungen sofort zu erkennen sind, dann schließen die anderen Leute daraus fast immer, dass