Die Stimme des Königs. Brad Huebert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Brad Huebert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567096
Скачать книгу
Das Buch wird dir alles sagen.«

      »Ich bin ja gerade erst angekommen, und ehrlich gesagt, habe ich eigentlich auch nicht vor, lange zu bleiben. Ich muss auf jeden Fall wieder nach Hause.«

      »Also wenn du von heute an jeden Tag in dem Buch liest, dann werde ich dir sagen, was du tun sollst, und auch deine Fragen beantworten, ja?« Sie zeigte auf den Buchumschlag, in dessen verblichenes Leder Worte eingeprägt waren, Worte, von denen Ivan ziemlich sicher war, dass sie dort noch nicht gestanden hatten, als der zahnlose Alte es ihm überreicht hatte. Das Buch der Pflichten stand da.

      »Okay, es ist so wie die Bibel. Wo soll ich anfangen?«

      Die Frau zwängte sich hinter dem Karren hervor und kam zu ihm herüber geschlendert. Sie nahm das Buch und blätterte darin, bis sie eine Stelle ziemlich am Anfang gefunden hatte. Sie schob einen Streifen braunes Papier zwischen die Seiten und klappte das Buch dann wieder zu. »Da.« Sie lächelte, als sie es ihm wieder zurück gab.

      »Fang langsam an, denn es gibt viel zu lernen, und später kann es ziemlich kompliziert werden. Sorge einfach dafür, dass du am Dienstag nicht den Tempel versäumst.«

      »Tempel?«

      »Alle treuen Stadtbewohner kommen einmal in der Woche im Tempel zusammen, um den König anzubeten. Die Zeremonie beginnt abends um acht.«

      »Den König? Meinst du Jesus?«

      »Ja, aber wir nennen ihn hier nur den König.«

      »Also gut, danke für den Apfel und deinen Rat. Dann sehen wir uns ja wahrscheinlich am Dienstag, wenn ich bis dahin nicht selbst schon mehr heraus bekommen habe.«

      Als er das sagte, entdeckte er einen kleinen idyllischen Park ein Stückchen weiter die Straße hinauf mit einer freien Bank im Schatten. Er beschloss, sich dort ein Weilchen hinzusetzen und in seinem neuen Buch zu lesen. Vielleicht würde er ja auf diese Weise erfahren, wo er war und weshalb er hier war. Wenn er Glück hatte, gab es am Ende des Buches ja sogar ein Glossar, in dem all die neuen Worte erklärt wurden, die er hier jetzt schon gehört hatte: Kakos, Basileia, Pflicht, Tempel.

      Tempel.

      Er rief der Frau noch eine letzte Frage zu:

      »Äh, welchen Tag haben wir heute eigentlich?«

      »Montag.«

      »Und diese Sache mit dem Tempel ...«

      »Ist immer dienstags, also morgen. Um acht.«

      »Gut.«

      KAPITEL 2

      Das Buch der Pflichten

      Ivan fand tatsächlich eine Art Glossar hinten in dem Buch der Pflichten. Beim Durchblättern erfuhr er, dass Basileia »Königreich« bedeutete und Kakos »böse«. Das leuchtete ein. Er hatte sein altes Leben mit allem Versagen und der Sünde hinter sich gelassen und sein Innerstes – sein Herz – ganz Jesus ausgeliefert oder besser: dem König. Anscheinend bedeutete das, von jetzt an hier in Basileia zu leben. Komisch, das hatte sein Pastor nie erwähnt.

      Was aber vielleicht noch wichtiger war – wo befand sich Basileia eigentlich, und wie war er hierher gekommen? Er suchte mit dem Zeigefinger das Glossar ab, aber es gab keinen einzigen Eintrag, aus dem hervorging, wie er von seinem Wohnzimmer aus in dieses seltsame mittelalterliche Königreich gelangt sein könnte. Und um ehrlich zu sein, er hätte es sich bestimmt noch einmal ganz genau überlegt, dieses Gebet zu sprechen, wenn er gewusst hätte, worauf er sich damit einließ.

      Was war mit seiner Familie, mit seinen Freunden zu Hause, mit seinem Job, mit seinem neuen Auto? Hatte er das wirklich alles für immer hinter sich gelassen? Ivan schüttelte den Kopf. Der König hatte alles verändert, was ihm vertraut war, alles, was ihm am Herzen lag und lieb und teuer war. Er musste unbedingt so schnell wie möglich wieder zurück nach Hause. Vielleicht war das ja auch alles nur ein Traum oder irgendeine Art seltsame Vision, so ein virtueller Raum, in dem die Realität glaubenseifriger Christen erlebbar war.

      Als er das braune Lesezeichen wiederfand, das ihm die Marktfrau in das Buch gelegt hatte, betete er wieder. »Herr – ich meine, König –, ich weiß nicht so genau, was hier eigentlich los ist, also, um ganz ehrlich zu sein, habe ich nicht die leiseste Ahnung. Ich hoffe jedenfalls, dass mir dieses Buch dabei hilft, wieder nach Hause zu kommen.« Er fragte sich, ob er den König wohl wirklich noch persönlich kennenlernen würde, bevor er hier wieder verschwand.

      Ivan fing an zu lesen. Er brauchte nicht lange, um festzustellen, dass der König einen großen Teil des Buches vollgepackt hatte mit ganz banalen Regeln, was zu tun und zu lassen war. Dann war das hier also genau so wie in seiner Gemeinde zu Hause. Nun war er aber ein unabhängiger Denker und damit so ganz und gar kein Typ für Regeln – doch wenn es sein musste, dass er sich an die Regeln hielt, dann würde er das eben tun. Er fühlte sich wie ein unwissendes Kind, das alles ganz neu lernen muss: Laufen, Sprechen, Essen, sein Geschäft zu erledigen, Beten, Lobpreisen. Wie um alles in der Welt sollte er sich das nur alles merken? Dann erinnerte er sich an die gescheiten Worte der Marktfrau. »Fang langsam an, es gibt viel zu lernen.«

      »Ach was!« Ivan beschloss, sich erst einmal einen Abschnitt vorzunehmen und sich dann auf die praktische Umsetzung des Gelesenen zu konzentrieren. Er überflog die Regeln hinten im Buch und stieß dabei auf einen Punkt mit der Überschrift: »Die korrekte Auferbauung«. Er wusste zwar nicht so genau, was »Auferbauung« konkret bedeutete, aber er wusste, dass er alles richtig machen wollte, also schlug er das Buch auf Seite 381 auf und fing an zu lesen.

      »Gute Bürger von Basileia sind Menschen, die eine korrekte Form der Auferbauung praktizieren. Jeder gute Bürger muss sich täglich Zeit für die Stille Zeit nehmen. Während dieser Zeit soll er im Buch der Pflichten lesen und zum König beten, denn das erwartet der König von uns, und zwar konsequent und ohne Ausnahmen.«

      Doch, das leuchtete ihm ein. Er hatte sich dem König ausgeliefert, und da konnte er jetzt kein Zaungast mehr sein. Von jetzt an würde er jeden Morgen eine gewisse Zeit für den König freihalten und dabei dann auch gleich ein paar Fleißpunkte sammeln. Wenn der König mit ihm zufrieden war, würde er ihn ja vielleicht eher wieder in sein Wohnzimmer zurück lassen. Ivan beschloss jedenfalls, alles zu tun, was dem König gefiel, denn schließlich war es zu Hause immer noch am schönsten.

      Als Ivan dann weiterlas, fand er auch den nächsten Abschnitt sehr hilfreich. Darin wurde skizziert, wie lange seine Stille Zeit dauern und wozu er sie nutzen sollte, das heißt, was er während dieser Zeit alles tun sollte, und wie er es so tun konnte, dass es dem König recht war und gefiel. Es war alles völlig klar. Er hatte jetzt einen Auftrag. Er bekam Herzklopfen, als ihm bewusst wurde, dass er sofort alles getan hatte, was ihm der König befohlen hatte. Und nicht nur das. Um ihn herum sangen auch noch die Vögel und die Sonne wärmte ihn. Kein Wunder, dass die Leute am Tor gesungen hatten. Vielleicht sollte er sich ihnen morgen anschließen. Nein, nicht morgen, denn so der Herr wollte, wäre er ja dann schon wieder weg.

      Als er von seinem Buch aufblickte, erlebte er eine weitere Überraschung. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Kopfsteinpflasters, stand eine Reihe anheimelnder kleiner Häuschen, mittendrin eines, das neuer aussah als die anderen. Es war frisch gestrichen und quer über die Haustür war ein großes Transparent gespannt mit der Aufschrift: »Willkommen zu Hause, Ivan.«

      Willkommen zu Hause? Das musste ein Irrtum sein. Ivan sprang auf und hätte beinahe sein Buch auf der Bank liegen gelassen. Er rannte über die Straße, sprang die beiden Stufen zum Eingang hinauf, zerriss das Transparent und griff nach der Türklinke, woraufhin sich die Tür quietschend öffnete.

      »Hallo?« Seine Stimme hallte in den Räumen wider, aber niemand antwortete. Als er den Flur betrat, warf er einen Blick in die Wohnung. Die Einrichtung war schlicht, aber sauber und hübsch. In einer Ecke war ein Feldbett aufgestellt. Im Herd brannte bereits ein munteres Feuerchen und ein seltsam windschiefes Fenster gab den Blick auf die Stadtmauer frei.

      Immer noch wie unter Schock, trottete er zu dem Fenster, von dem aus er einen großartigen Ausblick auf die Brücke, die Schlucht