Die Stimme des Königs. Brad Huebert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Brad Huebert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567096
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das Haupttor in der Stadtmauer weit offen stand. Das sah ja zumindest freundlich aus. Und wieder fragte er sich irritiert: Wo bin ich?

      Als er sich dem Stadttor näherte, wurde er von fröhlichem Gesang begrüßt. Je näher er dem gewaltigen Tor kam, desto lauter wurde der Gesang und desto heller und strahlender die Stadt. War er tot? War das hier das Himmelstor? Bei diesem Gedanken machte sein Herz einen Satz, bis er die riesigen Buchstaben las, die über dem Tor zu lesen waren:

      Basileia.

      Bevor er weiter über diesen Namen nachdenken konnte, strömten freudestrahlende Menschen zum Tor heraus, tollten herum und kamen auf ihn zugesprungen. Als er sich umdrehte, um nachzuschauen, über wen oder was sie sich so freuten, konnte er nichts entdecken.

      »Du bist da, du bist da«, jubelten sie.

      Er drehte sich wieder um und stand einer gebeugten Frau mit einem braunen Schultertuch gegenüber. Ein Dutzend andere Leute mit leuchtenden Augen und echtem, strahlenden Lächeln umkreisten ihn, umarmten ihn und klopften ihm auf den Rücken, als wäre er ein heimgekehrter Held.

      »Wo bin ich?«

      Die Frau zog kaum merklich ein ganz klein wenig die rechte Augenbraue hoch. »Na, in Basileia natürlich. Du hast doch dein Herz dem König geschenkt.«

      »Ja«, entgegnete Ivan, sich an sein Gebet erinnernd. »Aber das war doch ganz woanders und nicht hier.«

      »Ja, ganz woanders«, sagte ein kleiner Junge und nickte zustimmend. »Das war da drüben, in Kakos.« Er zeigte hinüber zu der finsteren Stadt. Ivan lächelte den Jungen an und versuchte, ihm zu erklären, dass er sich irrte.

      »Nein, nicht in Kakos. Dort bin ich noch nie gewesen.«

      »Doch, das bist du. Das sind wir alle. Wir kommen alle aus der schwarzen Stadt. Wir kommen alle aus Kakos.«

      Ivan wollte das Kind gerade berichtigen, als die ganze Gruppe wie aus einem Munde sagte: »Kakos ist unsere Mutter, aber Basileia ist unser Zuhause.«

      »Bin ich tot?«

      »Nein, nicht tot«, sagte die Frau. »Du lebst. Du lebst ewig.«

      »Aber ist dies dann der Himmel?«, fragte Ivan zunehmend ungeduldig.

      »Das haben wir dir doch schon gesagt«, erwiderte der kleine Junge grinsend. »Das hier ist Basileia, das himmlische Königreich!«

      »Aber wo ist meine Familie? Mein Haus? Mein Auto?«

      Die Leute lachten wieder und tätschelten ihm den Rücken.

      »Jetzt sind wir deine Familie. Willkommen hier bei uns.« Und damit machte die ganze Gruppe kehrt und tollte durch das Tor zurück in die Stadt. Ivan kniff – immer noch verwirrt – ganz langsam fest die Augen zusammen.

      Basileia – das Königreich, aber doch nicht der Himmel? Er hatte in der Gruppe keinen seiner Freunde aus der Gemeinde entdeckt, und er war ziemlich sicher, dass er dort eigentlich Monicas gesamte Verwandtschaft hätte antreffen müssen. Wer waren diese Leute? Ihm kam das alles jedenfalls sehr merkwürdig vor.

      Ein wenig abgeschreckt von dem tanzenden Begrüßungskomitee, warf er noch einmal einen Blick zurück auf die schwarze Stadt und wieder lief ihm ein Schauer über den Rücken. Er konnte sich nicht erinnern, Kakos je zuvor gesehen zu haben, und dennoch kam ihm der Anblick seltsam vertraut vor. Nichtsdestotrotz beschloss Ivan, sein Glück in Basileia zu versuchen, und durchschritt deshalb zügig das gewaltige Stadttor.

      Direkt hinter dem Tor blieb Ivan kurz stehen, um sich zu orientieren. Ein paar Schritte vor ihm stand eine Mauer, die stolz und golden hoch empor ragte. Zu seiner Linken befand sich ein offener Torbogen und zu seiner Rechten eine Steintreppe, die aufwärts führte.

      »Alte Stadt oder Neue Stadt?«, fragte eine schleppende Stimme zu seiner Linken. Er drehte sich um und erblickte einen beleibten Mann, der hinter einem Verkaufskarren stand und ihn angrinste. Dem Mann fehlten etliche Zähne und sein zotteliges rotes Haar hing ihm jungenhaft bis über die Augenbrauen in die Stirn. Ivan erwiderte das Lächeln.

      »Ich bin neu in Basila.«

      »Ba-si-lei-a«, korrigierte ihn der Mann langsam mit leicht schräg gelegtem Kopf. Aber dann wurden seine Augen plötzlich ganz groß und er sagte: »Oh, tut mir leid. Du hast noch gar nicht dein Buch, oder? Das habe ich ja ganz vergessen.«

      »Mein Buch?«

      »Ich soll den neuen Leuten hier ihr Buch geben. Das ist meine Aufgabe.« Er grinste stumm und hielt ihm ein dickes, in Leder gebundenes Buch hin. »Hier. Und verlier es bloß nicht.«

      Ivan nahm das Buch entgegen und blätterte in den schönen Seiten herum. »Wozu ist das?«

      »Alte Stadt oder Neue Stadt?«

      Ivan seufzte und kam zu dem Schluss, dass der alte Kauz ihm nicht weiterhelfen konnte. »Wofür entscheiden sich denn die meisten Leute?«

      »Fast immer für die Alte Stadt.« Das Gesicht des Mannes war ausdruckslos.

      »Na, dann wähle ich auch die Alte Stadt.« Ivan schlenderte zu der Treppe hin.

      »Dann zeigt es dir, wie es geht!«

      Der Mann versuchte sicher nur zu helfen, aber Ivan hatte das Gefühl, von einem Deppen belehrt zu werden.

      »Was?«

      »Das Buch. Es sagt dir, wie du ein guter Bewohner der Stadt werden kannst.«

      »Toll! Danke.« Ivan klemmte sich das Buch unter den Arm und winkte über die Schulter noch einmal dem Mann hinter sich zu, während er schon die Treppe hinauf ging. Es wurde Zeit, herauszufinden, wo er eigentlich war.

      Als er eine zweite kopfsteingepflasterte Ebene erreichte, schaute Ivan sich auch dort erst einmal um. Offenbar war er in eine Art altertümliches Wohngebiet gelangt. Die Stadt hier war ein bisschen kleiner, weil sie etwas höher lag. Dutzende von Bewohnern wuselten um ihn herum und gingen ihren Alltagsbeschäftigungen nach. Hier kümmerte sich offenbar jeder um seine eigenen Angelegenheiten, denn er wurde von niemandem angesprochen. Ein Stückchen weiter die Straße hinunter erstreckte sich eine Art Markt. Auf Drängen seines knurrenden Magens beschloss er, zunächst diese Richtung zu erkunden. Er würde erst einmal einen Happen essen und dann weiter erkunden, wo er eigentlich war.

      Der Markt war ein uriges Kaleidoskop von Marktkarren, die überquollen mit frischen Waren wie Fisch, Hühnchen und Bergen bunter Nüsse.

      »Neu in Basileia?«

      Ivan drehte sich um und sah eine Marktfrau mittleren Alters, die hinter einer Pyramide leuchtend grüner Äpfel stand.

      »Ja, ich bin erst vor ein paar Minuten angekommen.«

      »Na, dann willkommen zu Hause.«

      »Sagtest du ›zu Hause‹?«

      »Hier, probier doch mal einen.« Sie warf ihm einen Apfel zu.

      »Aber ich habe gar kein Geld.«

      »Ach, das ist schon in Ordnung«, entgegnete sie. Ivan biss fest in den Apfel – teils, weil er hungrig war, und teils, weil er dachte, der herzhafte Biss könnte ihn vielleicht zurückversetzen auf sein Ledersofa im heimischen Wohnzimmer. Es war ein leckerer Apfel, aber leider veränderte sich seine Realität dadurch nicht das kleinste Bisschen. Er wollte schon weiterschlendern, um sich die Stadt etwas genauer anzusehen, blieb dann aber doch noch ein wenig stehen.

      »Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen?« Neugierig zog die Marktfrau eine Augenbraue hoch.

      »Ich habe dieses nagende Gefühl, dass ich eigentlich etwas tun müsste.«

      »Aber sicher solltest du das. Das müssen wir alle. Manche Leute glauben, dass dieses Gefühl verschwindet, wenn sie erst mal hier angekommen sind, aber das ist ein Irrtum. Normalerweise ist es wie ein sanfter Druck, eine Art Last, die der König uns auferlegt. Wenn man besonders treu ist, wird diese Last meistens sogar noch stärker. Das ist ganz normal.«

      »Ach, normal also?