Rice taumelte, tastete nach dem Podium und brach dann der Länge nach auf der Bühne zusammen. Schreie ertönten aus dem Publikum. Die Mitarbeiter des Secret Service rannten zu ihm und umringten ihn.
In seinem Haus in Virginia verfolgte General Westlake die Verwirrung und das Chaos auf seinem Fernseher und lächelte. Die Berichterstattung wechselte ins Fernsehstudio zurück. Er goss sich noch einen weiteren Drink ein.
Damit wäre ein Problem erledigt. Bleibt nur noch ein weiteres.
Er musterte die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Glas und entschied, dass es der letzte Drink für diesen Abend sein würde. Alkohol half ihm beim Nachdenken, aber in letzter Zeit ertappte er sich dabei, mehr als gewöhnlich zu trinken. Er war zu weit gekommen, um an diesem Punkt einen Fehler zu machen. Die letzten Teile des Puzzles fügten sich gerade an ihren Platz.
Westlake stammte aus einer starken Militärtradition. Sein Großvater war im Ersten Weltkrieg in Frankreich verwundet worden. Sein Vater hatte im Zweiten Weltkrieg das Verdienstkreuz und den Silver Star verliehen bekommen. Als Westlake sein Studium in West Point absolviert hatte, war er ein naiver junger Mann gewesen, der daran geglaubt hatte, dass sein Land von Menschen geführt wurde, die die Welt zu einem besseren Ort machen wollten.
Stattdessen hatte er zusehen müssen, wie Amerika zunehmend von Leuten regiert wurde, die Profite und Zugeständnisse für eine erfolgreiche nationale Strategie hielten. Er hatte miterleben müssen, wie das Militär von inkompetenten Führern und fehlgeleiteter Politik handlungsunfähig gemacht worden war, obwohl eine überlegene Technologie und ein gigantisches Budget sie in die gefürchtetste Streitmacht verwandelt hatten, die die Welt je gesehen hatte.
Er war die Karriereleiter des Militärs bis fast ganz nach oben hinaufgeklettert, aber ein hoher Rang war immer auch mit einer gewissen politischen Haltung verknüpft. Als er für einen Platz unter den Joint Chiefs im Gespräch war, überging man ihn schließlich. Mit seiner offenen Kritik an Fehlern und der Notwendigkeit von Veränderungen hatte er sich im Kongress Feinde gemacht.
Aber Westlake war nicht allein mit seinen Ansichten. Er hatte die Unterstützung mächtiger Männer sowohl im Kongress als auch im Pentagon. Männer, die etwas verändern wollten und wie er an das Schicksal dieser Nation glaubten. Patrioten und Realisten wie er, die bereit waren, etwas dafür zu tun.
Vor vier Jahren war er zu einem Treffen eingeladen worden, das sein Leben veränderte. Das Treffen hatte zu weiteren Treffen geführt, mit Männern, die einen Plan entworfen hatten, Kontrolle über die Regierung zu erlangen. Einflussreiche, wohlhabende Männer. Sie wollten ihn als Führer eines neuen Amerikas, ein Amerika, welches wieder seinen Platz als Supermacht der Welt beanspruchen würde.
Und doch hatte er gezögert. Aber dann war sein Sohn in Afghanistan gefallen. Das war der letzte Schubs gewesen, den er noch gebraucht hatte, um sich ihnen endgültig anzuschließen.
Westlake sah zu dem Foto, welches er auf seinem Schreibtisch aufbewahrte, und spürte wieder diesen Kummer, der ihn nie ganz zu verlassen schien. Das Foto war an dem Tag entstanden, als sein Sohn sein Studium in West Point absolviert hatte. Alan Westlake, hochwachsen und stolz seine Uniform tragend, lächelte auf dem Foto. Er war einen sinnlosen Tod gestorben, in einem schlecht geführten Krieg, der Amerika langsam ausbluten ließ.
Wenn der Übergang vollendet war, würde es keine Kriege mehr ohne den absoluten politischen Willen zum Sieg geben.
Westlake hob sein Glas und prostete dem Foto seines Sohnes stumm zu.
Kapitel 7
Elizabeth arbeitete noch spät. Alle anderen waren bereits gegangen.
Gerade wog sie für sich ab, ob sie noch ein paar Stunden dranhängen und dann die Nacht hier in der Etage darunter verbringen sollte. Sie lehnte sich in ihrem Bürosessel zurück und betrachtete das Foto ihres Vaters auf dem Schreibtisch. Sie vermisste ihn, sein bestimmtes Auftreten und seine Fähigkeit, jedem Problem auf den Grund gehen zu können. Mehr noch aber seine Fähigkeit, besonders bis zum Kern ihrer Probleme vorzudringen.
Ihr Vater war Richter in Colorado gewesen, zu einer Zeit, als Richter in ihren Entscheidungen noch sehr viel freier gewesen waren. Das hatte sich in seinen letzten Dienstjahren geändert, als die Politik immer mehr Einfluss auf die Gerichtsbarkeit nahm. Die zunehmende Härte bei den Urteilen und das fließbandartige Vorgehen in Prozessen und bei Freisprüchen gehörten zu den wenigen Dingen, über die sie ihn je hatte klagen hören.
Als ihr direkter Telefonanschluss einen eingehenden Anruf anzeigte, ahnte sie, dass es sich um schlechte Nachrichten handeln würde. Niemand rief einen um diese Zeit an, es sei denn, es war etwas passiert.
»Harker«, meldete sie sich.
»Direktorin, hier spricht Agent Price vom Secret Service. Ich rufe Sie aus dem Walter-Reed-Krankenhaus an. Präsident Rice hatte einen Herzinfarkt. Er möchte Sie sprechen.«
Ihr Herz machte einen Satz. Sie wusste, dass er an diesem Abend eine wichtige Rede gehalten hatte, wollte sich diese aber erst später zuhause ansehen. Die Stimme am anderen Ende fuhr fort. »Ein Hubschrauber ist bereits auf dem Weg. Er dürfte in zehn Minuten bei Ihnen sein. Halten Sie sich bitte bereit.«
»Wie geht es ihm?«
»Nicht gut. Zehn Minuten, Direktorin.«
Elizabeth stand auf und stopfte ihr Handy in die Handtasche. Wenn sie einen Hubschrauber schickten, lag Rice wahrscheinlich bereits im Sterben. Sie betete, dass das nicht der Fall sein würde. Rice war einer der wenigen Menschen, die Elizabeth bewunderte. Wenn er starb, würde die Welt ein gefährlicherer Ort werden.
Sie schaltete das Licht in ihrem Büro aus, trat aus dem Gebäude und lief zu der Hubschrauber-Landeplattform, um dort zu warten. Nach ein paar Minuten hörte sie bereits das vertraute Wupp-Wupp-Wupp der Rotoren. Sie sah zu, wie der Helikopter in einem weiten Bogen auf das Grundstück einschwenkte. Der Pilot brachte den Hubschrauber über die Landeplattform und ließ ihn für einen Moment darüber schweben, bevor er ihn landete. Der Hubschrauber war komplett schwarz und unauffällig. Seine Rotoren drehten sich weiter.
Seltsam, dachte sie bei sich. Ich kann mich nicht erinnern, ein solches Modell schon einmal gesehen zu haben. Für gewöhnlich schicken sie eine Einheit der Marines.
Ein Mann in einem schwarzen Anzug stieg aus dem Hubschrauber. Er war etwa einen Meter achtzig groß, mit dunkler Haut und längerem Haar. Außerdem hätte er eine Rasur gebrauchen können. Aus irgendeinem Grund war Elizabeth beunruhigt, auch wenn sie nicht genau wusste, wieso.
»Direktorin Harker? Ich bin Agent Williams. Ich helfe Ihnen hinein.«
Er kam auf sie zu. Elizabeth bemerkte seinen Ohrhörer mit dem dünnen Kabel, etwas, das offenbar alle Agenten des Secret Service gemein hatten. Er trug die offizielle Kleidung des Secret Service – einen dunklen Anzug und Krawatte. Am Tag hätte er dazu wahrscheinlich noch eine Sonnenbrille getragen. Das alles entsprach den Vorschriften. Doch dann bemerkte sie seine Schuhe. Der Mann trug braune Halbschuhe.
Ihr Gespür schlug Alarm. Kein Agent hätte sich mit braunen oder andersfarbigen Halbschuhen erwischen lassen, schon gar nicht das Sicherheitspersonal aus dem Weißen Haus. Sein Haar war zu lang und ihr war auch noch nie ein unrasierter Agent des Secret Service untergekommen.
Etwas an ihrem Blick musste sie verraten haben. Der Gesichtsausdruck des Mannes verfinsterte sich. Er griff unter seine Anzugjacke. Der Pilot sah ihnen von hinter den gewölbten Glasscheiben aus zu.
Elizabeth war in ihrem Leben nicht so weit gekommen, weil sie dumm war. Ihr Verstand hatte all die Anzeichen bereits verarbeitet, während der Mann noch auf sie zugekommen war. Die Haare, die schlechte Rasur, die Schuhe. Das alles bedeutete Ärger. Sie traf eine Entscheidung. Sie zog im selben Augenblick ihre Pistole