»Adam hat keinen Grund, es zu erfinden.«
»Das weißt du nicht.«
»Ich weiß nur, dass sich bisher alles, was er uns mitteilte, als wahr erwies. Wieso sollte er so etwas dann erfinden? Die Akte ist echt«, sagte Nick. »Das Papier hat das richtige Alter. Sie riecht sogar nach den Achtzigern.«
»Vielleicht ist sie gefälscht? Ein Trick?«
»Wieso sollte er das tun?«
»Ich weiß nicht.«
Sie nahm die Akte in die Hand und legte sie wieder ab.
»Laut der Akte kamen sie nicht bei einem Autounfall ums Leben.«
»Ja.«
»Der KGB ließ sie töten. Ihn, meine Mutter und meinen Bruder.«
»Sie hätten auch dich getötet, wenn du in dem Wagen gewesen wärst.«
»Diese Bastarde«, entfuhr es ihr.
»Es tut mir leid«, wiederholte er. Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte.
»DIESE BASTARDE!«, schrie sie, stand auf und warf ihr Weinglas durch den Raum. Es zerschellte an der Wand. Dann legte sie ihre Hände vors Gesicht und begann zu weinen.
Nick lief zu ihr, legte seine Arme um sie und drückte sie schweigend an sich. Er konnte den sauberen Geruch ihrer Haare riechen. Nach einer Weile beruhigte sie sich, wischte sich die Tränen ab, schnäuzte in ein Taschentuch und setzte sich danach wieder an den Tisch.
»Ich will einen Drink«, sagte sie. »Einen starken.«
Nick goss ihr einen doppelten Whiskey ein und einen weiteren für sich selbst. Er reichte ihr das Glas und setzte sich ihr gegenüber. Sie trank ihn mit einem Schluck aus.
»Mein Onkel wusste es«, sagte sie. »Er wusste es die ganze Zeit über. Sein Name stand in den Dokumenten. Er hat sie unterzeichnet. Ich wusste, dass er Verbindungen zur CIA hatte, aber nicht, dass er auch für sie arbeitete. Er hatte Freunde in Langley. Einer von ihnen kümmerte sich um die Alarmanlage in meinem Loft in San Francisco.«
»Muss ein verdammter Schock für ihn gewesen sein, als er das über deinen Vater herausfand«, sagte Nick.
»Wie konnte mein Vater so etwas tun? Wie konnte er sein Land verraten? Er war ein wunderbarer Mensch, ein wunderbarer Vater. Was bringt jemanden dazu, sich gegen das Land zu wenden, das einem alles gegeben hat?«
»Ich weiß es nicht. Ich schätze, dass Langley nicht genau wusste, für welche Seite er wirklich arbeitete. Allem Anschein nach fütterte er die Russen mit falschen wie mit richtigen Informationen. Für den KGB Grund genug, ihn zu eliminieren. Vielleicht hatte er Befehle, ihnen falsche Informationen zuzuspielen.«
»Aber wenn er falsche Informationen weitergab und Langley darüber Bescheid wusste, wieso lassen diese Berichte es dann so aussehen, als wäre er ein Verräter gewesen, ein weiterer verdammter Doppelagent?«
»Dafür könnte es unzählige Gründe geben. Vielleicht wollte jemand weiter oben seinen Arsch retten. Oder jemand wollte zum eigenen Vorteil die Wahrheit manipulieren. Wenn man sich Langley in den Achtzigerjahren ansieht, war vieles nur Blendwerk.«
»Bastarde«, sagte sie noch einmal.
Nick war nicht sicher, ob sie damit die Russen oder die CIA meinte.
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie.
»Was meinst du?«
»Wirst du damit zu Harker gehen?«
»Ich wüsste nicht, wieso«, antwortete Nick.
»Glaubst du nicht, dass das meine Befugnisse beeinflussen könnte? Ob sie mir noch vertrauen kann oder nicht?«
»Willst du mir jetzt mit der Bibel kommen?«
»Was meinst du?«
»Dass die Sünden der Väter auch noch ihre Kinder heimsuchen und all so was. Du bist nicht dein Vater.«
»Aber glaubst du nicht, dass sie davon wissen sollte?«
»Was sollte das bringen?«
Selena hob die Akte. »Ich will sie genauer studieren«, sagte sie. »Vielleicht findet sich etwas, das den Namen meines Vaters reinwäscht. Ein Detail, ein Name. Irgendetwas.«
»Vielleicht.« Oder vielleicht auch nicht, dachte Nick. Aber das behielt er für sich.
»Ich werde nach Hause gehen«, sagte sie. »Ich muss nachdenken.«
Nick war nicht sicher, wie er reagieren sollte. Also verhielt er sich neutral.
»Wir haben morgen um 0900 ein Briefing«, begann er. »Holst du mich ab?«
»Sei um acht Uhr unten an der Straße.«
»Ruf mich an, falls du reden willst.«
»Ich muss nachdenken«, wiederholte sie.
Er sah zu, wie sie die Tür hinter sich schloss.
Kapitel 10
Am nächsten Morgen fuhren Nick und Selena nach ihrem morgendlichen Briefing in Virginia zurück nach Washington. Der Verkehr auf der 66 war dicht. Selena hatte geschwiegen, seit sie das Hauptquartier des PROJECTs verlassen hatten.
»Wie geht es dir?«, fragte er.
»Ganz okay. Ich denke viel über diese Akte nach.« Selena trat aufs Gas und schoss an einem Lieferwagen vorüber.
»He, Vorsicht!«, rief Nick.
»Was ist?«
»Du hättest beinahe den Außenspiegel eingebüßt.« Er warf einen Blick auf den Tacho. Sie fuhren beinahe einhundertdreißig Kilometer pro Stunde.
»Er ist aber noch da, oder nicht?« Ihre Stimme klang ernst.
Nick wollte etwas erwidern, entschied sich aber dagegen.
»Die ganze Sache stinkt gewaltig«, sagte sie.
»Wie meinst du das?«
»Die Akte lässt Dad wie einen Verräter aussehen. Aber er hätte nie jemanden verraten, weder seine Familie noch sein Land. Langley wusste, dass er Informationen nach Moskau schleuste. Wieso haben sie ihn nicht aufgehalten? Wenn man so etwas erst einmal herausgefunden hat, lässt man die Leute doch nicht einfach weiter Geheimnisse ausplaudern. Er muss den Segen des Direktors gehabt haben.«
»Du glaubst also, er war ein Doppelagent für uns?«
»Ja. Ich denke, Langley hat ihn benutzt, um den Sowjets Falschinformationen unterzujubeln.«
»Wieso sollte die Akte dann das Gegenteil behaupten?«, fragte Nick.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht beging jemand einen Fehler und wollte es vertuschen. Vielleicht gab es wirklich einen Verräter, jemanden, der den Russen einen Tipp gab und meinen Vater als den Schuldigen zu brandmarken versuchte. Ich werde vielleicht nie herausfinden, was sich genau zutrug, aber ich weiß, dass der KGB ihn umgebracht hat. Wenn die Person, die dafür verantwortlich ist, noch am Leben ist, wird sie dafür büßen. Ich werde sie zwingen, mir die Wahrheit zu erzählen.«
»Wer immer ihn getötet hat, war ein Auftragskiller des KGB. Wie willst du ihn finden?«
»Ich weiß es noch nicht, aber das werde ich.«
Nick sah sie an und war sich einer Sache sicher: Wenn der Mörder ihrer Familie noch am Leben war, würde Selena ihn aufspüren. Und er vermutete, dass seine Tage gezählt sein würden, wenn sie ihn fand.
»Eine Sache muss ich loswerden«, sagte Nick.
»Was?«
»Ich muss wissen, dass dein Urteilsvermögen nicht