Nick hatte ihr die Akte vorenthalten. Sie wusste nicht, ob sie deswegen sauer oder dankbar sein sollte. Wie hatte sie sich in einen Mann verlieben können, der unfähig schien, sich zu entscheiden, welche Art von Beziehung er mit ihr führen wollte? Sie wusste, dass er sie liebte, dessen war sie sich sicher. Zumindest die meiste Zeit über.
Und sie liebte ihn, oder etwa nicht? Vielleicht musste vielmehr sie selbst sich die Frage stellen, welche Art von Beziehung sie mit ihm wollte, als andersherum.
In letzter Zeit musste sie oft über Kinder nachdenken. Wenn sie noch eigene Kinder haben wollte, musste sie sich damit beeilen. Mit fünfunddreißig wurde es dafür langsam Zeit. Weniger aus körperlichen als aus persönlichen Gründen. Sie war es gewohnt, im Prinzip das zu tun, was sie wollte. Man konnte nicht unbedingt sagen, dass sie ihre Arbeit beim PROJECT liebte, aber es ließ sich nicht abstreiten, dass sie die Aufregung und die Unberechenbarkeit liebte. Wie könnte sie das aufgeben? Kinder würden ihr gesamtes Leben verändern.
Außerdem konnte sie sich Nick nur schwer als Vater vorstellen. Und sich selbst als Mutter, was das betraf. Wenn sie sich für Kinder entschied, würde das bedeuten, das PROJECT verlassen zu müssen. Mit Kindern, um die sie sich sorgen müsste, würde sie die mit ihrem Beruf zusammenhängenden Risiken niemals eingehen.
Ihre Gedanken kehrten zu der Akte zurück.
Der KGB hat meine Familie getötet.
Ihre Hand schloss sich fester um das Glas. Es ist noch nicht so lange her, dachte sie. Wenn die Leute, die dafür verantwortlich sind, noch am Leben sind, werde ich sie finden.
Sie trank den Rest ihres Drinks aus und goss sich einen weiteren ein.
Kapitel 12
Am nächsten Morgen rief Selena Nick an.
»Es tut mir leid.« Sie hörte sich müde an. »Ich habe die Beherrschung verloren. Ich hätte nicht wütend werden dürfen. Ich weiß, dass du dir Sorgen um uns alle machst und dass wir lebend aus einem Einsatz zurückkehren.«
»Okay.«
»Ich bin wütend. Ich will, dass die Bastarde, die meinen Vater getötet haben, das bekommen, was sie verdienen. Aber ich werde nicht zulassen, dass es unserer Arbeit im Wege steht.«
»Das genügt mir. Vielleicht hätte ich auch etwas diplomatischer sein können.« Er schwieg für einen Moment. »Tut mir leid, dass ich die Tür zugeschlagen habe.«
»Also ist zwischen uns wieder alles okay?« Ihre Stimme klang heiter, aber Nick wusste, dass sie es ernst meinte.
»Alles okay. Hör mal, Lamont wird heute aus dem Krankenhaus entlassen. Lass uns zusammen in dem Café neben deinem Appartement frühstücken und ihn dann abholen. Ich rufe ihn an und sag Bescheid, dass wir kommen.«
»Deal.«
Nach dem Frühstück fuhren Sie ins Krankenhaus. Zweimal glaubte Nick, einen blauen Wagen bemerkt zu haben, der ihnen folgte. Er suchte im Seitenspiegel nach ihm, doch als er ihn nicht mehr erblickte, entspannte er sich. Manchmal war ein Auto eben einfach nur ein Auto.
Sie trafen Lamont in seinem Zimmer an, wo er eine alte Ausgabe der Sports Illustrated las und gelangweilt wirkte. Er war bereits angezogen. Ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als sie sein Zimmer betraten.
»Die Kavallerie ist da«, sagte Nick. »Pack deine Sachen.«
Lamont hielt eine rote Sporttasche in die Höhe. »Junge, was bin ich froh, euch beide zu sehen.«
»Wie geht es dir, Shadow?«
»Kann es kaum erwarten, von hier zu verschwinden. Ich warte schon die ganze Zeit, dass der Arzt aufkreuzt und mich entlässt.«
»Dann suchen wir ihn.«
Lamont war bei den Navy Seals gewesen, bevor Nick ihn zum PROJECT gebracht hatte. Lamonts Mutter war ein großer Fan der Shadow-Hörspiele im Radio gewesen und hatte ihren Sohn nach deren Helden Lamont Cranston benannt. Sein Seal-Team hatte ihm daraufhin den Spitznamen Shadow verpasst. Und irgendwie war er dann hängengeblieben.
Lamonts drahtiger Körper schien nur aus Muskeln zu bestehen. Seine Haut hatte die Farbe feinsten Kaffees und seine ungewöhnlich blauen Augen verdankte er seinen äthiopischen Vorfahren. Eine dünne rosafarbene Linie zog sich von einem Auge quer über die Nase hinab. Ein Souvenir aus dem Irak.
Er griff nach einer großen Pillendose auf dem Beistelltisch und stopfte sie in seine Sporttasche.
»Bist du immer noch auf Medikamenten?«, fragte Nick.
»Antibiotika. Irgendwas neues. Ich vertrage sie schlecht, aber die Medicos sagen, ich soll sie nehmen. Ich mag das Zeug nicht.« Er zog den Reißverschluss der Tasche zu.
Selenas Wagen war ein Mercedes CLS 550, ein eleganter Viertürer deutscher Ingenieurskunst, mit einem V6-Turbolader-Motor und über vierhundert Pferdestärken. Selena liebte diese Marke. Für eine Weile hatte sie ein burgunderrotes Coupe mit noch mehr Power unter der Haube besessen, aber dann hatte sie ihn gegen diesen eingetauscht. Davor fuhr sie einen silbernen Benz, den sie an dem Tag zu Schrott fuhr, als sie Nick kennenlernte. Am Ende war er von Einschüssen durchlöchert und nur noch auf seinen Felgen gefahren. Ihr aktueller Mercedes besaß eine wunderschöne Graumetallic-Lackierung mit einem Hauch von Blau, eine Farbe irgendwo zwischen Schießpulver und Mitternachtsblau.
Lamont öffnete die Hecktür und warf seine Tasche hinein. Aus dem Augenwinkel sah Nick etwas aufblitzen. Manche Dinge vergaß man nicht, und dazu gehörte die Reflexion des Zielfernrohrs an einem Gewehr, welches auf einen zielte.
Nick befand sich genau zwischen Selena und Lamont. Ohne nachzudenken, ging er in Deckung und zog die beiden mit sich, als auch schon der Knall eines schallgedämpften Gewehrs irgendwo zwischen den Reihen von Fahrzeugen auf dem Parkplatz ertönte. Nick spürte, wie die Kugel an ihnen vorbeipfiff. Das hintere Beifahrerfenster des Autos neben ihnen zersprang in tausend Scherben. Hastig krochen sie von dem Mercedes davon und duckten sich hinter einen weißen Ford Pick-up in der nächsten Parklücke.
Lamont kauerte am hinteren Reifen. »Wo steckt er?«, fragte er.
Bevor Nick ihm antworten konnte, durchlöcherte eine Salve den Ford, ließ Fensterscheiben zersplittern und die Karosse des Wagens von metallischen Einschlägen erzittern. Die Reifen auf der ihnen gegenüberliegenden Seite zerplatzten und ließen den Wagen hart auf den Asphalt sacken.
Lamont begann zu fluchen. Nick riskierte einen Blick über die Motorhaube des Ford und erspähte den Schützen hinter einer blauen Limousine.
»Er ist auf der linken Seite nahe der Ausfahrt«, erklärte er, »hinter einem blauen Cadillac. Lamont, bist du bewaffnet?«
»Nope. Ich lag im Krankenhaus, erinnerst du dich?«
»Lange hält er das nicht durch, dafür ist hier zu viel los. Selena, du und Lamont, ihr bleibt hier. Ich schleiche mich um den Parkplatz herum und versuche hinter ihn zu gelangen. Wenn ihr ihn seht, dann schießt auf ihn, um ihn zu beschäftigen.«
Selena wollte etwas antworten, als sie das Quietschen von Reifen auf dem Asphalt hörten. Nick hob den Kopf und sah, wie der Wagen des Schützen vom Krankenhausparkplatz schoss. Der Wagen war schnell und bereits beinahe außer Schussweite. Außerdem war der Schusswinkel unglücklich. Nick hob die Sig mit beiden Händen und richtete die weißen Punkte des Visiers auf das Fahrerfenster des vorbeipreschenden Fahrzeugs. Er atmete aus und gab drei rasche Schüsse ab. Die Pistole zuckte in seinen Händen.
Ein. Zwei. Drei.
Das Fenster zersplitterte. Der Wagen driftete nach rechts und raste über den Randstein. Dort pflügte er sich mit einem Geräusch in eine Reihe parkender Autos, als hätte jemand zehn Tonnen Schrott vom Himmel geworfen. Für einen kurzen Moment herrschte Stille, dann explodierte