Der Kaplan. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783835345577
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Hocker neben den Herd – plötzlich todmüde.)

      Schweigen. Dann:

      SIG. SILOTTI: »Ich habe dich nicht in der Kirche gesehen.«

      ERNESTO: »Ich gehe nie zur Kirche, Mutter – das weißt du.«

      SIG. SILOTTI: »Auch nicht an Weihnachten?«

      ERNESTO: »Die christlichen Feiertage bedeuten mir nichts. Und außerdem, selbst wenn ich das Bedürfnis hätte zu beten – wir haben keinen Ort, um Gott zu verehren. Der Feind hat unsere Kirche zerstört.«

      SIG. SILOTTI: »Eine halb zerstörte Kirche ist besser als gar keine.«

      ERNESTO: »Wir haben auch keinen Priester.«

      SIG. SILOTTI: »Weil unser Padre von schlechten Menschen ermordet wurde.«

      ERNESTO: »Er wurde nicht ermordet: Er bekam eine gesetzliche Gerichtsverhandlung, wurde verurteilt und bestraft. Seine Schuld stand außer Zweifel.«

      SIG. SILOTTI: »Seine Schuld? Ach, Sohn, Sohn … Er war ein heiliger Mann, ein Heiliger. Wie könnte ein Heiliger schuldig werden?«

      ERNESTO (heftig): »Begreifst du denn nicht, Mutter, dass dein Heiliger für den Feind gearbeitet hat? Ein Verräter, das war er, dein heiliger Mann. Ein Schuft, einer von der 5. Kolonne …«

      SIG. SILOTTI (unterbricht seinen Ausbruch mit überraschender Autorität): »Hör auf, Sohn, das reicht.«

      ERNESTO (brummt): »Na gut, reden wir nicht darüber.«

      Wieder Schweigen; dann:

      ERNESTO: »Wer hat denn heute Morgen die Messe gelesen?«

      SIG. SILOTTI: »Es gab keine Messe. Nur Gebete, Lieder und eine Predigt.«

      ERNESTO: »Und die Predigt – wer hat die gehalten?«

      SIG. SILOTTI: »Unser amerikanischer Freund.«

      ERNESTO (spöttisch): »Der Kaplan? Das ist ja gediegen, ich muss schon sagen! Ein Kerl, der die Uniform des Feindes trägt – predigt in einer Kirche, die dieser Feind zerstört hat! Was für eine Ironie! Was für eine Beleidigung! Und er ist nicht einmal katholisch …«

      SIG. SILOTTI: »Katholisch oder nicht – Amerikaner oder nicht: Er ist ein guter Mensch, ein guter Christ, sehr hilfsbereit und freundlich. Ich bin mir sicher, du wirst ihn mögen.«

      ERNESTO: »Wovon redest du? Ich werde diesen Herrn nicht kennenlernen.«

      SIG. SILOTTI: »Doch, das wirst du. Er wird jeden Moment hier sein. Weißt du, er war es, der das Kinderfest heute Nachmittag vorbereitet hat.«

      ERNESTO: »Du hast doch wohl nicht erwartet, dass ich an dieser lächerlichen Wohltätigkeitsveranstaltung teilnehme, Mutter?«

      SIG. SILOTTI: »Warum, natürlich, Ernesto! Es wird ein schönes Fest, mit viel amerikanischem Essen, mit heißer Schokolade und anderem mehr. Natürlich musst du kommen. Bei einer Weihnachtsfeier in unserem eigenen Haus fortzubleiben – was für ein Gedanke!«

      ERNESTO: »Ich kann das nicht, Mutter. Das kommt nicht in Frage.«

      SIG. SILOTTI: »Ernesto, bitte! Komm doch! Lass es dir mit uns zusammen gut gehen! Befreunde dich mit dem Kaplan und den anderen Amerikanern! Sei ein guter Junge! Bitte!«

      ERNESTO: »Besteh nicht darauf, Mutter: Ich kann nicht …«

      SIG. SILOTTI: »Tu es mir zuliebe, Ernesto! Es ist das einzige Weihnachtsgeschenk, um das ich dich bitte …«

      ERNESTO (schreit heraus): »Ich kann nicht!«

      SIG. SILOTTI (erschrocken – ihre Stimme zittert vor Angst und Zuneigung): »Was ist denn nur? … Erzähl mir alles … Sag es deiner Mutter, Ernesto … Was ist denn nur, mein armer kleiner Junge?«

      ERNESTO (mit einem noch heftigeren Aufschrei): »Nenn mich nicht deinen armen kleinen Jungen! Ich ertrage es nicht. Ich will kein Mitleid – nicht von dir und nicht von den Amerikanern!«

      SIG. SILOTTI: »Warum sollte dich denn jemand bemitleiden? Du bist klug, hast einen scharfen Verstand und Mut: Du wirst es weit bringen, eine große Karriere machen …«

      ERNESTO: »Ach, hör auf, Mutter, hör auf! Wie soll ich denn Karriere machen, wenn der Feind gewinnt? Das ist das Ende – verstehst du das nicht, Mutter? Es ist das Ende meiner Hoffnungen, meiner Ambitionen – das Ende von Italien: das Ende von Allem …«

      SIG. SILOTTI: »Beruhige dich, Ernesto! Sprich nicht so laut. Man könnte dich nebenan hören …«

      ERNESTO: »Und wenn sie mich hören – was macht das schon? Ist es eine Schande, Patriot zu sein? Ist es ein Verbrechen, auf den Sieg des eigenen Landes zu hoffen? Wir haben diesen Krieg nämlich noch nicht verloren! Und wir werden ihn nicht verlieren – nein!« (Er ballt die Fäuste.) »Egal, wie finster die Aussichten im Moment sein mögen – der Sieg wird uns gehören! Sie werden sich wundern – die Plutokraten, die Juden, die Bolschewisten, die Lügner, die Heuchler …«

      SIG. SILOTTI: »Warum hasst du sie so?«

      ERNESTO: »Weil sie uns zerstören wollen – und sich zugleich als Befreier aufspielen. Weil sie unsere Kirchen bombardieren – und dann predigen sie brüderliche Liebe von der zerstörten Kanzel. Weil sie unsere Kinder töten – und dann füttern sie sie mit Caramelli. Weil sie ständig über Toleranz reden – und dann lachen sie … und lachen … über einen Krüppel.« (Seine Stimme ist tränenerstickt.)

      SIG. SILOTTI: »Wer lacht …? Was für ein Krüppel …? Ich verstehe nicht …«

      ERNESTO: »Erst heute Morgen … Einer ihrer Offiziere – er fuhr im Jeep vorbei … Einer dieser arroganten jungen Kerle: gute Figur, gut genährt, gut gekleidet – ein wahrer Plutokrat … Ich stand zufällig an der Straße – hab nichts gemacht. Und dieser Lieutenant – dieser Gauner in seinem Jeep – er sah mich an und lachte – lachte einfach über mich – haha-ha –: ungefähr so …« (Wütend äfft er das Lachen des Lieutenants nach.)

      SIG. SILOTTI: »Wahrscheinlich wollte er dich nicht beleidigen … Ich bin sicher, das wollte er nicht! Er hat nur gelacht, weil er an etwas Komisches gedacht hat …«

      ERNESTO: »Aber Mutter, verstehst du denn nicht? I c h war es, den er so komisch fand! Er hat auch nicht nur gelacht – oh nein! Er hat Grimassen geschnitten, so …« (Er imitiert die Grimassen des Lieutenants.) »Und dann nannte er mich bucklig … so laut, dass jeder es hören konnte … er sagte es mir ins Gesicht, bucklig … ich verstehe nicht viel von ihrer Sprache, aber d a s Wort kenne ich: HUNCHBACK, HUNCHBACK, HUNCHBACK …« (Er wiederholt das Wort in Englisch.)

      SIG. SILOTTI: »Vielleicht hatte er zu viel Weihnachtspunsch getrunken … Oder er war nur ein dummer, alberner Junge … In jedem Land gibt es schlechte Menschen …«

      ERNESTO (ohne zuzuhören): »Bucklig – mir direkt ins Gesicht …: Das ist ihre Toleranz, das ist ihre brüderliche Liebe …«

      SIG. SILOTTI: »Du wirst andere Amerikaner kennenlernen – freundliche, großzügige Menschen. Kaplan Martin zum Beispiel …«

      ERNESTO: »Ich werde ihn nicht kennenlernen. Du musst mich jetzt entschuldigen, Mutter. Ich muss arbeiten.«

      SIG. SILOTTI: »Arbeiten? An Weihnachten?«

      ERNESTO: »Es muss heute gemacht werden.«

      SIG. SILOTTI: »Komm wenigstens kurz herunter, wenn die Kinder da sind – wirst du das für mich tun, Ernesto? Nur auf eine Tasse heiße Schokolade …«

      ERNESTO: »Die würde mir wie Gift schmecken, weil ich weiß, dass sie amerikanisch ist. Auf Wiedersehen, Mutter.« (Schon in der Tür, dreht er sich um und kommt zurück, um seine Mutter auf unbeholfene, verlegene Weise zu umarmen. Dabei sagt er mit sanfter Stimme:) »Sei