LUIGI: »Warum, Umberto?«
UMBERTO: »Achte nicht auf ihn, Luigi. Er hat mal wieder eine seiner Launen.«
ERNESTO: »Von Würde zu reden! Was für ein Witz!«
LUIGI: »Wirklich, Ernesto – ich verstehe nicht, wovon du sprichst.«
ERNESTO (lacht noch immer aus einer hysterischen Wut heraus): »Würde, also wirklich! Vom Feind milde Gaben annehmen – das ist würdevoll, nehme ich an? Euren kleinen Brüdern und Schwestern zu zeigen, wie man stiehlt und betrügt – das ist würdevoll, oder?«
UMBERTO (nähert sich ihm drohend): »Also, das reicht jetzt, Ernesto! Ich erlaube niemandem zu sagen, ich würde meinen kleinen Brüdern und Schwestern böse Dinge beibringen. Meinst du, du kannst dir alles herausnehmen, nur weil du einen Buckel hast …?«
ERNESTO (mit einem schrillen Schrei): »Buckel! Oh, du … du …« (Er reißt sich mit sichtbarer Anstrengung zusammen und läuft – mit knirschenden Zähnen – auf die Haustür zu. Als er die Tür erreicht hat, dreht er den Kopf zu den beiden Jungen um und sagt mit kalter, heiserer Stimme:) »Danke, dass du mich daran erinnerst, Umberto.«
(Er betritt das Haus.)
Die ZWEI JUNGEN bleiben verdutzt zurück – sie grinsen sich unsicher an.
LUIGI: »Das hättest du nicht sagen sollen, Umberto.«
UMBERTO: »Ich weiß. Aber er k a n n einen auch verrückt machen, oder?«
LUIGI: »Das kann er, bestimmt. Er ist aber ein schlauer Kerl. Vergiss nicht, er hat mehr Grips als irgendwer sonst im Dorf.«
UMBERTO: »Vielleicht hat er das. Trotzdem sollte er nicht so tun, als wäre er unser Duce oder so etwas Ähnliches. Seitdem er aus Bologna zurückgekommen ist, hat er solche Allüren …«
LUIGI: »Sein Vater ist schuld daran: So, wie der ihn erzogen hat …«
UMBERTO: »Lass uns nicht über Vater Silotti reden: das ist ein unerfreuliches Thema.«
LUIGI: »Würdest du denn nicht gern wissen, wo er ist?«
UMBERTO: »Ich glaube, ich weiß, wo er ist: bei den Faschisten.«
LUIGI: »Verrückt, so was zu machen, oder?«
UMBERTO: »Vielleicht gar nicht verrückt – von ihrem Standpunkt aus. Siehst du, wenn die Faschisten gewinnen, dann haben Leute wie die Silottis – Vater und Sohn – hier das Sagen.«
LUIGI: »Der kleine Ernesto hat das Sagen? Was für ein Gedanke! Stell dir das vor!«
Er imitiert ERNESTOS Art zu gehen und zu gestikulieren. Sie lachen.
BLENDE.
12. INNEN, HAUS DES BÜRGERMEISTERS …: Ein großer Raum unten. Steinfußboden; offener Kamin, in dem ein schwaches Feuer brennt. Niedrige Decke. Im Hintergrund führt eine Treppe ins Obergeschoss. Die Küchentür steht halb offen.
Es gibt nur wenige Möbel (ein schwerer Tisch, einige Stühle) –: alles ist an die Wände geschoben worden, um Platz für das Fest zu schaffen. Der Raum sieht allerdings noch nicht sehr weihnachtlich aus – mit Ausnahme eines kleinen dürren Weihnachtsbaums.
Trübes Zwielicht. Bedrückte Stimmung.
Die knochige MATRONE und die ZWEI KLEINEN MÄDCHEN, die wir beim Eintreten gesehen haben, sitzen auf drei Stühlen entlang der Wand. Von ihnen entfernt in einer Ecke die Gruppe der KINDER, die mit ihren älteren Brüdern angekommen waren: schweigend, zusammengedrängt, als würden sie einen aufkommenden Sturm erwarten. ERNESTO steht reglos am Kamin – den anderen den Rücken zugewandt; er wärmt sich die Hände an der Flamme.
Nach langem, versteinertem Schweigen beginnt eins der zwei KLEINEN MÄDCHEN zu sprechen, mit hoher, piepsiger Stimme – sie wendet sich ängstlich an ihre Mutter, die knochige MATRONE.
KLEINES MÄDCHEN: »Wo sind die Amerikaner, Mama?«
MATRONE: »Noch nicht da, Kind.«
KLEINES MÄDCHEN: »Wo sind die Caramelli?«
MATRONE: »Die Amerikaner bringen die Caramelli mit, Kind.«
KLEINES MÄDCHEN: »Wann kommen die Amerikaner denn?«
MATRONE: »Wenn die Feier beginnt.«
KLEINES MÄDCHEN: »Und wann beginnt die Feier?«
MATRONE: »Bald. Wir sind zu früh. Ich fand es klug, früh da zu sein, damit wir nichts verpassen. Jetzt hab Geduld und rede nicht so viel.«
KLEINES MÄDCHEN (weinerlich): »Ich will Caramelli.«
ANDERES KLEINES MÄDCHEN (fällt in das Gejammer ein): »Ich will mit den Amerikanern tanzen. Mama, du hast versprochen, dass die Amerikaner mit mir tanzen.«
ERNESTO, noch immer mit dem Rücken zu den anderen, weicht zurück.
MATRONE: »Geht es dir nicht gut, Ernesto?«
Ohne zu antworten eilt ERNESTO zur Treppe. Als er an der Küchentür vorbeikommt, hört man die Stimme seiner MUTTER.
SIGNORA SILOTTIS STIMME: »Ernesto, mein Sohn! Komm einen Augenblick her – tust du das?«
ERNESTO (zögert, dann, mit heiserer Stimme): »Ja, Mutter.« (Er öffnet die Küchentür.)
SCHNITT AUF:
13. INNEN, KÜCHE …: Ein kleiner Raum, die Hälfte des verfügbaren Platzes wird von einem enormen, rußgeschwärzten Herd eingenommen, die andere Hälfte ist mit altertümlichen Küchengeräten aller Formen und Größen vollgestopft – Pfannen, Töpfe, Geschirr.
Umgeben von so vielen klobigen und glänzend polierten Gegenständen, wirkt SIGNORA SILOTTI erst recht klein und farblos. Sie ist eine abgearbeitete kleine Frau, die viel älter aussieht, als sie tatsächlich ist (nämlich ungefähr 55), mit runzligem, besorgtem, großäugigem Gesicht, das von fast weißem Haar eingerahmt wird.
Sie steht vor einem offenen Schrank voller altmodischem Porzellan und Silbergeschirr mit dem Rücken zu ERNESTO, der langsam und widerstrebend eintritt.
Nahaufnahme von SIGNORA SILOTTI[8] – ihr Gesicht ist angespannt vor Erwartung und Sorge, während ihre Hände mechanisch Tassen und Löffel auf ein großes hölzernes Tablett stapeln. Die Kamera schwenkt auf ERNESTO – sie zeigt seine kantigen, verkrampften Züge, die sich etwas lockern und aufhellen, während er schweigend den gebeugten, müden Rücken seiner Mutter anstarrt. Lange Zeit herrscht Schweigen.
SIG. SILOTTI: »Fröhliche Weihnachten, mein Sohn.«
ERNESTO: »Danke, Mutter.«
SIG. SILOTTI: »Neuigkeiten?«
ERNESTO: »Neuigkeiten – von wem?«
SIG. SILOTTI: »Du verstehst mich sehr gut.«
ERNESTO (mit unterdrückter Irritation): »Wie oft muss ich dir sagen, Mutter, dass ich von Vater seit dem Tag, an dem er gegangen ist, nichts mehr gehört habe. Ich weiß nicht, wo er ist.«
SIG. SILOTTI (dreht sich plötzlich um und sieht ihren Sohn direkt an): »Aber du weißt, dass er noch am Leben ist, oder?«
ERNESTO: »Ich weiß gar nichts, Mutter – wirklich. Wenn ich Informationen hätte – ich würde sie bestimmt nicht vor dir verbergen. Warum sollte ich?«
SIG. SILOTTI (sieht ihn immer noch an): »Ja – warum solltest du?«
ERNESTO