Im Pfarrhaus angekommen, wartete Max auf sie. Er hatte eine Nachricht, die wie eine Bombe einschlug.
»Ich hab’ vorhin mit München telefoniert«, erzählte der Bruder des Bergpfarrers. »Ihr wißt schon, wegen der Meldepflicht. Und jetzt haltet euch fest, Kriminalhauptkommissar Hellwig ist auf dem Weg nach St. Johann!«
Maria stieß einen erstickten Schrei aus.
»Nein!«
Sebastian sah Max fragend an.
»Wegen Maria?« fragte er. »Will er sie etwa nach München zurückholen?«
Sein Bruder schüttelte den Kopf.
»Nein, deswegen würd’ er sich net die Mühe machen, herzukommen«, erwiderte er und sah Maria an. »Du mußt also keine Bedenken haben. Der Kollege kommt wegen etwas ganz anderem…«
»Nun mach’s net so spannend!« sagte der Geistliche. »Was ist denn geschehen?«
Max holte tief Luft.
»Thorsten Gebhard ist angeblich in Österreich gesehen worden«, antwortete er endlich. »Und jetzt wird vermutet, er könne nach St. Johann kommen, wegen der alten Bindungen, die die Maria hierher hat.«
*
»Grüß Gott, der Herr Hellwig aus München, net wahr?« begrüßte Ria Stubler den Kripobeamten.
Der nickte.
»Ja, mein Kollege hat heut’ morgen ein Zimmer reserviert.«
Die Wirtin hatte schon den Schlüssel in der Hand und ging voran. Wolfgang war überrascht. Das Zimmer war geräumig und gemütlich eingerichtet. Es gab Fernsehen, Telefon und ein separates Bad. Durch eine Glastür konnte man auf den umlaufenden Balkon hinausgehen.
Das wär’ ja mal was, um Urlaub zu machen und auszuspannen, dachte er und seufzte innerlich. Leider bin ich aber net auf Urlaub hier.
Ria erklärte ihm, wann es Frühstück gab, zu den anderen Mahlzeiten müsse er aber ins Wirtshaus gehen. Der Beamte nickte und bedankte sich.
»Das Zimmer wurde erst einmal für eine Woche gemietet«, sagte sie. »Sie müßten dann aber bitt’ schön rechtzeitig Bescheid sagen, wenn Sie verlängern wollen.«
»Mach’ ich«, erwiderte Wolfgang Hellwig.
Er hoffte, daß es nicht so lange dauern würde, bis Thorsten Gebhard hier auftauchte. Wenn er es überhaupt tat…
Die Pensionswirtin wünschte ihm einen angenehmen Aufenthalt und ging hinaus. Wolfgang packte erst einmal seine Reisetasche aus, dann nahm er sein Handy und setzte sich auf das Bett. Auf der Dienststelle meldete sich Klaus Schober.
»Gibt’s was Neues?« erkundigte sich der Chef.
»Nein, überhaupt nix«, antwortete sein Mitarbeiter. »Wenn es tatsächlich der Gebhard war, den der Portier erkannt haben will, dann ist er jetzt wieder wie vom Erdboden verschwunden.«
Er lachte.
»Na ja, dann haben S’ immerhin einen kleinen Urlaub gemacht.«
Hellwig beendete die Verbindung und ließ sich zurücksinken. Während er an die Decke starrte, versuchte er sich in den Millionendieb hineinzuversetzen. Thorsten Gebhard war gewiß kein Dummkopf. Er gehörte zu der Sorte Verbrecher, die sich nicht nur durch Kaltblütigkeit auszeichnete, sondern auch durch eine gute Portion Intelligenz. Der Mann hatte in Wirtschaftswissenschaften promoviert, seinen Doktor mit »summa cum laude« gemacht. Er hatte also einiges auf dem Kasten. Ganz bestimmt würde er sein Äußeres verändern, das Bild, das als Fahndungsfoto um die ganze Welt gegangen war, mußte nicht mehr seinem jetzigen Aussehen ähneln.
Wolfgang Hellwig schloß einen Moment die Augen. Er sah das Gesicht von Maria Berger vor sich und überlegte, nicht zum ersten Mal, was ihn an dieser Frau so faszinierte.
Gut, sie war attraktiv und sprach einen Mann an. Aber das alleine war es nicht. Während der Vernehmung hatte Wolfgang einen leisen Anflug von Mitleid für sie gespürt. Darüber war er mehr als verwundert gewesen. Für ihn war sie verdächtig, Mittäterin an einem Kapitalverbrechen zu sein, alles sprach dafür, daß sie mit Gebhard gemeinsame Sache gemacht hatte, und doch waren dem gewieften Kriminalbeamten irgendwann Zweifel gekommen.
Weiter fragte er sich, welche Rolle dieser Geistliche in der ganzen Geschichte spielte. Der Mann war ihm gegenüber selbstsicher und bestimmt aufgetreten. Sympathisch war der erste Eindruck, den Pfarrer Trenker auf ihn gemacht hatte, und doch war Wolfgang Hellwig nicht ganz klar, ob es wirklich nur die Sorge um das einstige Pfarrkind war, die ihn veranlaßt hatte, nach München zu kommen und Maria Berger mitzunehmen.
Maria Berger – Wolfgang lauschte in sich hinein. Der Entschluß, ihr nach St. Johann zu folgen, war keineswegs spontan gefaßt worden. Zwar hatte die Tatsache, Thorsten Gebhard könne hierher kommen, den endgültigen Ausschlag gegeben, aber überlegt hatte der Beamte es schon vorher.
Dabei war es keineswegs mehr der Verdacht, den er gegen die Frau hegte. Wolfgang fühlte vielmehr, daß sie ihn auf ungewöhnliche Weise angesprochen hatte, und er wünschte sich nichts mehr, als daß sie wirklich die Wahrheit sagte und völlig ahnungslos war, was ihren Geliebten anging.
Ihren Geliebten – diese Bezeichnung auf den Verbrecher anzuwenden, widerstrebte ihm. Denn das machte Maria mit Thorsten Gebhard irgendwie gemein. Aber Wolfgang wollte nicht die Schuldige in ihr sehen, sondern das Opfer. Wenn er doch nur glauben könnte, daß sie es auch tatsächlich war. Mit einem Ruck richtete er sich auf und starrte ins Leere. Mit einer Heftigkeit, die ihn erschrecken ließ, war ihm bewußt geworden, daß er Maria Berger begehrte, mehr als je eine Frau zuvor. Er hatte sich in sie verliebt und mußte sich eingestehen, daß das der wahre Grund war, warum er ihr gefolgt war.
*
Es dauerte eine Weile, ehe er das Chaos seiner Gefühle wieder in ruhigere Bahnen lenken konnte. Wolfgang stand auf und ging ins Bad, wo er sich kaltes Wasser über das Gesicht laufen ließ. Dann vergewisserte er sich, daß sein Handy eingeschaltet in der Tasche steckte, zog die Jacke über und verließ das Zimmer. In der Pension zu hocken und darauf zu warten, daß irgendwas passierte, hatte keinen Zweck. Er mußte sich im Ort umsehen und mit allem vertraut machen, untersuchen, wo Thorsten Gebhard eventuell unterkriechen konnte, wenn er tatsächlich die Absicht hatte, hierher zu kommen.
Und schlußendlich war ein Kriminalkommissar auch nur ein Mensch, der Hunger bekommen konnte, und den hatte Wolfgang Hellwig. Nach der überstürzten Abfahrt aus München hatte er nichts mehr gegessen oder getrunken, und jetzt knurrte ihm der Magen.
Außer dem Hotel, zu dem ein Restaurant und ein einfach gehaltenes Gasthaus gehörten, gab es in St. Johann sonst keine Möglichkeit, essen zu gehen, stellte er fest und betrat nach einem kurzen Spaziergang den Kaffeegarten. Martin Ernst hatte recht, der Ort war von Touristen geradezu überlaufen; kaum ein Tisch war noch frei. Wolfgang hatte jedoch Glück und fand einen, an dem gerade eine Familie mit zwei Kindern aufstand. Er nickte grüßend, nahm Platz und warf einen Blick in die Speisekarte. Mittag war noch nicht ganz vorüber, und er bestellte das Tagesgericht: Gebackenen Seelachs mit Salat und Kartoffeln. Dazu genehmigte er sich ein kleines Bier, orderte aber auch noch gleich ein Glas Mineralwasser. Während er auf Essen und Getränke wartete, überlegte er, was St. Johann wohl für die Urlauber so interessant machte, daß sie in Scharen herkamen. Besonderes gab es auf den ersten Blick nicht. Ganz im Gegenteil, es war ein ruhiges, kleines Dorf, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein schien. Die Häuser mit ihren Lüftlmalereien strahlten einen gewissen Charme aus. Gemütlich war es, anheimelnd. Dazu kam, trotz der vielen Fremden, eine herrliche Ruhe. Niemand schien in Hast und Eile zu sein, wenn die Zeit schon nicht stehengeblieben war, dann ging sie in St. Johann jedenfalls anders, kam Wolfgang zum Schluß.
Das Essen war hervorragend, und er aß den ganzen Teller leer. Nachdem er auch noch eine Tasse Kaffee getrunken hatte, fühlte sich der Beamte rundum zufrieden.
Vielleicht mach’ ich wirklich mal Urlaub hier, dachte er, während er den Kaffeegarten