Eigentlich ist es kein richtiges Leben, dachte er. Seine Wohnung sah er eher sporadisch, als regelmäßig, oft kam es vor, daß er im Büro auf einem Feldbett übernachtete. Indes nahm er es mit stoischer Gelassenheit hin. Zu Hause wartete ohnehin niemand auf ihn, die Beziehungen zu einer Frau waren immer an der Tatsache gescheitert, daß Wolfgang wegen seines aufreibenden Dienstes nie Zeit für sie hatte. Irgendwann hatte er es dann ganz aufgegeben, sich nach jemandem umzusehen, mit dem er das Leben teilen konnte.
All diese Dinge gingen ihm durch den Kopf, als er den Kiesweg zur Kirche hinaufstapfte. Rechts sah er das Pfarrhaus, in dem Maria Berger zur Zeit wohnte, doch er ging durch die Tür in das Gotteshaus und blieb überrascht in dem Vorraum stehen.
So eine Pracht hatte er nicht erwartet.
Wolfgang Hellwig war zugegebenermaßen kein Kirchgänger. Ganz abgesehen davon, daß er meistens auch gar keine Zeit hatte, gehörte er zu den Menschen, die höchsten, an Feiertagen eine Messe besuchten. Was allerdings nicht heißen sollte, daß er nicht gläubig war. Es war eine andere Art Glaube, die ihn mit Gott verband, und manchmal, in auswegslosen Situationen, geschah es, daß Wolfgang Kraft und Trost im Gebet fand.
Langsam ging er durch die Kirche und sah sich um. Es war ein herrlicher Anblick, der sich ihm bot. Hellwig stand minutenlang vor dem Bild »Gethsemane« und konnte sich nicht davon losreißen. Erst als er Schritte vernahm, die den Gang herunterkamen, schaute er über die Schulter und erkannte Maria Berger.
Die junge Frau hatte ihn noch nicht gesehen, und der Kripobeamte drückte sich ein Stück tiefer in den Gang zwischen Sakristei und der Treppe, die zur Orgel hinaufführte. Er beobachtete, wie Maria sich in die Bank vor dem Altar setzte und den Kopf sinken ließ. Sekundenlang schien sie ins Gebet vertieft, dann richtete sie sich wieder auf und blickte, als habe sie das Gefühl, von jemandem angeschaut zu werden, hinter sich.
Wolfgang Hellwig wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Aus der Nische herauszukommen und sich ihr zu erkennen zu geben, erschien im genauso unmöglich, wie weiter in seinem Versteck zu verharren. Doch dann entschied er, sich ruhig zu verhalten und zu sehen, was sie als nächstes tat.
Ein irrsinniger Gedanke kam ihm plötzlich. Als er die Kirche betreten hatte, waren mehrere Besucher hiergewesen. Urlauber, augenscheinlich, wie man unschwer an den umgehängten Fotoapparaten und Videokameras erkennen konnte. Inzwischen waren sie gegangen, und einzig er und Maria Berger hielten sich noch hier auf.
Was, wenn plötzlich die Tür aufging, und Thorsten Gebhard hereinkam?
Vielleicht hatten die beiden ja die Kirche als Treffpunkt ausgemacht…
Wolfgang merkte, in welchem Zwiespalt er steckte. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als den Verbrecher zur Strecke zu bringen. Auf der anderen Seite befürchtete er, daß sich genau das herausstellen würde, was er im ersten Moment seiner Ermittlungen geglaubt hatte, daß Maria Berger die Komplizin war.
Plötzlich stand sie auf und kam genau auf sein Versteck zu. Maria erschrak nicht, als sie den Beamten sah. Ihr Blick war eher erstaunt, als verängstigt.
»Ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden«, sagte sie mit der Stimme, die ihm schon bei ihrem ersten Gespräch so angenehm aufgefallen war.
»Entschuldigen Sie…, es… es war net meine Absicht…«, stotterte Wolfgang Hellwig.
»Sie entschuldigen sich bei mir?« fragte Maria. »Aber wieso? Sie tun doch nur Ihre Pflicht.«
Ein wenig erstaunte es ihn, daß sie nicht überrascht schien, ihn hier zu sehen. Aber gleich darauf bekam er die Erklärung dafür.
»Es war ja ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis wir uns begegnen mußten«, fuhr die junge Frau fort. »Als ich erfahren habe, daß Sie auf dem Weg hierher sind, dachte ich allerdings net, daß es schon so bald sein würde. Sie sind aber net meinetwegen gekommen, net wahr?«
»Nein«, schüttelte er den Kopf.
»Wegen Thorsten«, sagte sie. »Glauben Sie wirklich, daß er es war, der in Österreich gesehen wurde?«
»Sie sind erstaunlich gut informiert«, stellte er fest.
»Sie vergessen, daß der Bruder meines Gastgebers ein Kollege von Ihnen ist. Als er heut’ morgen pflichtbewußt meine Anwesenheit nach München meldete, erfuhr er von Ihrem Mitarbeiter, daß Sie nach St. Johann unterwegs sind. Außerdem sind ja alle Dienststellen, an der Grenze zum Nachbarland, in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden.«
»Es ist nur eine Vermutung«, sagte Wolfgang und merkte, daß er sie die ganze Zeit fasziniert anstarrte.
Dieses anmutige Gesicht war ihm ins Gedächtnis gebrannt. Ihr sinnlicher Mund schrie geradezu danach, geküßt zu werden. Wolfgang fühlte, daß sein Herz lichterloh brannte, als er jetzt vor ihr stand, und es tat weh, in ihr immer noch eine Verdächtige sehen zu müssen.
»Vielleicht war es nicht Dr. Gebhard«, fuhr er mit rauher Stimme fort. »Aber man muß alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«
»Natürlich«, erwiderte Maria, die seinen seltsamen Blick bemerkte und sich keinen Reim darauf zu machen wußte. »Ich glaube indes nicht, daß Thorsten sich überhaupt noch in Europa aufhält. Sollte er sich jedoch wider Erwarten bei mir melden, werde ich Sie unverzüglich davon unterrichten.«
»Dann… dann haben Sie keine gefühlsmäßigen Bindungen mehr zu ihm?« fragte der Beamte.
Maria sah ihn an, als habe er ihr eine völlig unverständliche Frage gestellt.
»Natürlich net!« antwortete sie. »Wie können Sie so etwas auch nur denken? Dieser Mann hat mein Leben zerstört. Ich wünschte, ich wäre ihm niemals begegnet!«
Wolfgang atmete befreit auf. Nein, sie liebte Gebhard nicht mehr, und das konnte nur ein Beweis ihrer Unschuld sein.
Er lächelte sie an.
»Ich bin froh, daß wir uns unterhalten haben, Frau Berger«, sagte er. »Hoffen wir, daß Dr. Gebhard bald gefaßt wird, und Sie in aller Öffentlichkeit rehabilitiert werden.«
»Heißt das, daß Sie mir glauben?« fragte Maria überrascht.
Wolfgang Hellwig zuckte die Schultern.
»Sagen wir, der Verdacht gegen Sie schwächt sich ab«, entgegnete er.
*
Martin Ernst schaute seine Kollegen schmunzelnd an.
»Bingo«, sagte der stellvertretende Leiter der Sonderkommission. »Es sieht ganz so aus, als gäbe es eine Spur von unsrem Meisterdieb.«
Klaus Schober sprang förmlich von seinem Stuhl auf.
»Wirklich?«
Ernst nickte.
»Und sie führt tatsächlich nach Österreich. Der gute Dr. Gebhard hat uns ganz schön an der Nase herumgeführt. Während wir in der ganzen Welt nach ihm suchen, versteckt er sich praktisch gleich um die Ecke.«
»Und wie ist das herausgekommen?« wollte Jochen Brandner wissen.
»Ein Glücksfall und für uns mehr wert, als ein Sechser im Lotto«, erwiderte Martin. »Eigentlich sollte die Telefonüberwachung der Frau Berger eingestellt werden. Aber der Chef hatte im letzten Moment noch eine Idee. Was, wenn sie die Rufumleitung ihres Handys nutzt, und jeder, der sie zu Hause anruft, automatisch auf das Mobiltelefon weitergeleitet wird? Das haben wir uns gestern gefragt. Deshalb hat unser allwissender Vorgesetzter angeordnet, daß der Anschluß weiterhin überprüft werden soll, und er hat recht gehabt. Gestern abend wurde bei Maria Berger angerufen, da war sie ja schon in St. Johann. Die Umleitung dauert eine Weile, der Anrufer muß also dranbleiben, wenn er mit dem andren Teilnehmer sprechen will. Unsre Leute haben festgestellt, daß Dr. Gebhard, ich geh’ jedenfalls mal davon aus, daß es sich um ihn handelt, aus Österreich angerufen hat. Das Telefonat