»Es gab ja niemanden, den ich hier besuchen konnte«, erwiderte Maria. »Ich hatte alle Brücken hinter mir abgebrochen. Die einzige Bindung wäre das Grab meiner Eltern gewesen, aber ich hab’ die Pflege einer Gärtnerei übergeben. Es gab also keinen Grund für mich, herzukommen. Wenn man einen Menschen auch über den Tod hinaus liebt, braucht’s keine Äußerlichkeiten. Ich bewahr’ meine Eltern immer noch im Herzen.«
Einen kurzen Moment herrschte Schweigen.
»Wissen Sie, daß Sie eine faszinierende Frau sind, Maria«, sagte Wolfgang dann.
Sie lächelte. Nun hatte er sie schon zum zweiten Mal beim Vornamen genannt.
»Vielen Dank, Wolfgang«, antwortete sie.
Und er lächelte zurück.
*
»Ich bringe Sie selbstverständlich zum Pfarrhaus«, erklärte der Kripobeamte, als sie das Wirtshaus verließen.
»Aber das ist net nötig«, wollte sie abwehren.
Wolfgang machte ein verlegenes Gesicht.
»Ihr Handy – haben Sie es dabei?«
Maria verstand.
»Ach so«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Nein, das ist im Pfarrhaus. Ich hab’s noch net einmal aus der Tasche genommen.«
»Würden Sie das bitte gleich machen? Und… dürfte ich vielleicht dabeisein?«
»Natürlich«, antwortete sie.
Schweigend gingen sie nebeneinander her. Während Wolfgang Hellmann daran dachte, wie es wäre, jetzt seinen Arm um sie zu legen, überlegte Maria, daß er eigentlich ein ganz anderer Typ war, als den sie ihn kennengelernt hatte. Nichts war mehr von der Verbissenheit zu spüren, mit der er alles darangesetzt hatte, sie der Komplicenschaft zu Thorsten zu überführen. Richtig angenehm empfand sie seine Begleitung, und irgendwie wünschte sie sich, dieser Abend würde noch nicht zu Ende gehen.
Pfarrer Trenker hatte ihr einen Hausschlüssel gegeben, damit sie kommen und gehen konnte, wann sie wollte. Bisher hatte Maria davon noch keinen Gebrauch gemacht. Jetzt zog sie den Schlüssel hervor und öffnete.
»Einen Moment«, bat sie, »ich muß das Handy aus meinem Zimmer holen.«
Wolfgang nickte und sah sich wartend um. Gerade als Maria die Treppe hinaufgegangen war, öffnete sich eine Tür, und der Geistliche trat auf den Flur.
»Ach, hab’ ich mich doch net geirrt, als ich dachte, Stimmen zu hören«, sagte Sebastian. »Kommen S’ doch herein.«
»Ich möchte aber net stören«, erwiderte der Beamte. »Ich warte nur auf Frau Berger, die…«
»Unsinn, Sie stören net«, schüttelte der Bergpfarrer den Kopf. »Ich wollt’ mich ohnehin mit Ihnen unterhalten.«
Wolfgang Hellwig folgte ihm ins Wohnzimmer und setzte sich in den angebotenen Sessel.
»Mein Bruder hat Nachtschicht«, begann Sebastian die Unterhaltung. »Die Hatz ist also auf.«
Wolfgang räusperte sich.
»Ja, es gibt Hinweise, daß der Gesuchte tatsächlich versucht, nach Bayern überzutreten. Deshalb sind alle Dienststellen in Grenznähe in Alarmbereitschaft versetzt worden«, antwortete er.
»Ich weiß net, ob der Hase sich so leicht fangen läßt…«
»Ein bissel Glück gehört zu unsrem Beruf dazu.«
»Ja, da haben S’ recht«, nickte der Geistliche. »Was die Frau Berger betrifft, so haben S’ Ihre Meinung über sie inzwischen geändert?«
»Na ja, ich bin geneigt ihr zu glauben, daß sie mit der Unterschlagung nichts zu tun hat und auch sonst ahnungslos war.«
»Das freut mich zu hören.«
»Sie hat auch zugestimmt, als ich sie darum bat, ihr Handy einzuschalten.«
»Dann hoffen Sie, daß Thorsten Gebhard sich bei ihr meldet?«
»Ja, das ist im Moment unser einziger Trumpf«, bestätigte Wolfgang Hellwig. »Er ahnt ja net, daß ich hier bin, und daß Frau Berger sich zur Zusammenarbeit bereit erklärt hat.«
»Wir sind hier«, rief Sebastian in den Flur hinaus, als er Schritte auf der Treppe hörte.
Gleich darauf kam Maria herein. Sie hatte das Mobiltelefon in der Hand.
»Setz’ dich«, sagte Sebastian. »Kommissar Hellwig hat mir erzählt, worum es geht.«
»Ich schalte es jetzt also ein«, nickte die junge Frau und drückte ein paar Tasten.
Das Handy gab einen Ton von sich, der anzeigte, daß sie die richtige Geheimnummer eingegeben hatte. Dann ertönte ein Klingeln, und auf dem Display war zu lesen, daß Maria vierzehn Anrufe verpaßt hatte. Sie reichte das Handy an den Kripobeamten weiter. Wolfgang nahm es entgegen.
»Die Anrufe kamen von drei verschiedenen Mobiltelefonen«, sagte er nachdenklich. »Dr. Gebhard ist kein Dummkopf. Er hat jeweils einige Male telefoniert und dann die Karte gewechselt, daher die unterschiedlichen Nummern hier.«
Er gab das Gerät Maria zurück.
»Würden Sie bitte die Mailbox abhören«, bat er.
Maria drückte eine Taste und stellte anschließend die Lautsprecherfunktion ein. Dann lief es ihr eiskalt über den Rücken.
»Maria«, vernahm sie die Stimme des Mannes, den sie einmal geliebt hatte, »ich bin es. Du bist nicht zu Hause. Wo steckst du? Melde dich bitte, wenn du das hier abgehört hast.«
Noch dreizehn ähnlich klingende Nachrichten hatte der flüchtige Millionendieb hinterlassen. Jedesmal mit dem Hinweis, er würde sich wieder melden.
»Der letzte Anruf war heut’ abend um kurz nach acht«, sagte Wolfgang Hellmann und drückte eine Taste, um zurückzurufen, aber es kam keine Verbindung zustande.
»Jetzt können wir nur hoffen, daß er wieder anruft«, meinte Sebastian Trenker. »Nur was soll Frau Berger dann machen? Das Gespräch annehmen?«
»Das habe ich auch schon überlegt«, erwiderte der Beamte. »Ja, ich würd’s für das Beste halten. Versuchen S’ herauszubekommen, was er vorhat. Vielleicht bekommen wir dadurch einen Hinweis darauf, wo Gebhard jetzt steckt und wann er den Grenzübertritt wagen will.«
»Ist das net gefährlich?« wandte Sebastian ein. »Was ist, wenn er Verdacht schöpft?«
»Ich denk’ net, daß es für Frau Berger gefährlich werden könnt’«, schüttelte Wolfgang den Kopf. »Immerhin scheint Dr. Gebhard ja davon überzeugt zu sein, daß Maria ihn immer noch liebt und mit ihm gehen wird.«
Er schaute sie kurz an.
»Wenn es seine Absicht ist, Sie mitzunehmen.«
»Aber was soll ich ihm denn genau sagen?«
»Wichtig ist, daß Sie ihn hinhalten und das Gespräch so lang wie möglich führen. Dann haben unsre Leute die besten Chancen, seinen Standort schnell ausfindig zu machen.«
»Und wenn er tatsächlich herkommen will?« fragte sie.
»Dann ermutigen Sie ihn. Je sicherer er sich fühlt, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß Dr. Gebhard einen Fehler macht.«
»Mir schmeckt das net so recht«, schüttelte Sebastian den Kopf. »Die Maria macht den Lockvogel für Sie, ich halte das net für so ungefährlich, wie Sie, Herr Hellwig.«
»Solange die beiden net aufeinandertreffen, besteht keine Gefahr«, erwiderte er und schüttelte den Kopf. »Natürlich müssen S’ mich sofort benachrichtigen, wenn er sich gemeldet hat.«
Maria nickte.
»Ich glaub’ auch net, daß Thorsten mir was tun würd’«, sagte sie.
Wolfgang