Die junge Frau betrachtete verwundert die kleinen Sträuße aus Margeriten, Röschen und grünen Blättern. Marion hatte die Blumen im Garten geschnitten und zusammengebunden.
»Haben Sie Lust auf einen Kaffee?« fragte sie, als der letzte Strauß in der Vase stand. »Ich habe gerade welchen gekocht.«
»Sieht man mir das an?« lachte Johanna. »Ich wollte tatsächlich gerade zum Hotel gehen.«
»Das brauchen Sie nicht.« Die Pensionswirtin winkte ab. »Setzen Sie sich doch schon mal nach draußen.«
Johanna trat in den Garten hinaus. Jetzt, wo die anderen Gäste alle unterwegs waren, herrschte eine angenehme Stille. Sie setzte sich an einen der Tische und streckte die Beine aus. Die Sonne hatte sich hinter ein paar Wolken verkrochen.
»Hoffentlich hält das gute Wetter an«, sagte sie, als die Wirtin mit dem Kaffee und einem Teller Keksen kam.
»Bestimmt«, entgegnete Marion zuversichtlich und deutete zum Himmel. »Die paar Wolken verziehen sich schon bald wieder.«
Sie setzte sich zu Johanna und schenkte ein. Die junge Frau erzählte von ihrem Besuch in der Kirche und wie begeistert sie immer noch von dem Gotteshaus war.
Marion Trenker beobachtete sie während der Unterhaltung immer wieder nachdenklich. Irgendwas war ihr an Johanna Kramer aufgefallen. Schon gestern hatte sie darüber nachgedacht, aber ihr wollte einfach nicht einfallen, was es war.
Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
Natürlich, darauf hätte sie auch schon eher kommen können!
Es war die sanfte, zurückhaltende Art, die so gar nicht dem aufgesetzt fröhlichen Wesen der jungen Frau entsprach. Marion kam es so vor, als sei es nur eine Fassade, auf die sie schaute, doch dahinter verbarg sich ein empfindsames und verletztes Wesen.
Und dann die Tatsache, daß so eine attraktive Frau ganz allein in den Urlaub gefahren war…
»Sagen Sie, Frau Kramer«, fragte sie vorsichtig, »Sie sind ganz allein hier…, gibt es niemanden, der hätte mitfahren wollen?«
Im nächsten Moment bereute sie ihre Frage. Das Antlitz versteinerte sich, und in die hübschen Augen trat ein trauriger Ausdruck.
»Bitte, entschuldigen Sie«, bat Marion und legte Johanna eine Hand auf den Arm. »Ich wollte nicht neugierig sein.«
Es währte nur einen winzigen Augenblick. Dann lächelte die Sekretärin.
»Schon gut.« Sie schüttelte den Kopf und sah die Wirtin an. »Es gab jemanden…, aber…, na ja, wie sich herausgestellt hat, war er nicht der Richtige.«
Marion schenkte nach.
»Möchten Sie darüber reden?« fragte sie. »Manchmal tut es ganz gut, wenn man jemandem sein Herz ausschütten kann.«
Johanna Kramer antwortete nicht sofort; das Angebot kam zu überraschend. Andererseits gab es wirklich niemanden, mit dem sie über ihr Problem ausführlich gesprochen hatte. Abgesehen davon, daß ihre Eltern in Augsburg lebten und die Tochter nicht sehr oft sahen, hätten sie ohnehin kein Verständnis für Johannas Problem gehabt. Franz Kramer schon gar nicht, der lebte nur für seinen Fußballverein, bei dem er Jugendtrainer war, und ihrer Mutter hatte sie noch nie irgendwelche Sachen anvertrauen können.
Freilich, mit ein paar Freundinnen hatte sie schon darüber gesprochen und bei ihnen auch Trost und Zuspruch gefunden. Aber vielleicht war es doch etwas anderes, wenn ein Außenstehender einen Rat geben konnte, und Marion Trenker machte durchaus den Eindruck, als könne sie Verständnis und Mitgefühl aufbringen.
»Es ist sehr lieb, daß Sie das sagen«, nickte Johanna. »Ich glaube, ich könnte wirklich jemanden gebrauchen, der mir zuhört und mir einen Rat gibt.«
Sie schaute unsicher zur Tür.
»Aber haben Sie überhaupt Zeit?« setzte sie hinzu. »Es wartet doch sicher viel Arbeit auf Sie.«
Marion schüttelte den Kopf.
»Das hat Zeit«, sagte sie. »Außerdem habe ich noch einen Vorschlag. Wollen wir uns nicht einfach duzen? Das macht es nämlich leichter, jemandem etwas anzuvertrauen.«
Johanna freute sich über das Angebot. Sie prosteten sich mit ihren Kaffeetassen zu, und dann erzählte sie leise und langsam davon, was sich zugetragen hatte.
*
Stefan Kreuzer war mit der Wahl, die seine Sekretärin für ihn getroffen hatte, zufrieden. St. Johann gefiel ihm außerordentlich gut. Es war ein nettes, beschauliches Dorf, in dem man seine Ruhe finden konnte.
Er hatte die Pension verlassen und spazierte die Straße hinunter. Es war unglaublich, wie viele Touristen hier ihren Urlaub verbrachten. Kein Wunder, daß Hotelzimmer so schwer zu bekommen waren, wahrscheinlich mußte man schon Wochen vorher buchen.
Indes, so recht konnte er sich nicht auf das Geschehen um ihn herum konzentrieren. Eher ging er wie ein Schlafwandler mit offenen Augen durch den Ort, und auch wenn er die schönen Lüftlmalereien wahrnahm, wirklich sehen tat er sie nicht, denn mit seinen Gedanken war er ganz woanders. Die kurze Begegnung eben auf dem Flur der Pension hatte einen tiefen Eindruck bei Stefan hinterlassen. Die junge Frau hatte genau das geschafft, was keiner anderen bisher gelungen war – er hörte sein Herz sprechen.
Mein Gott, dachte er plötzlich, da kommst du her mit einem Sack voller Probleme, und anstatt dich darum zu kümmern, daß du sie löst, verliebst du dich Hals über Kopf in eine schöne Unbekannte!
Er schmunzelte über sich selbst.
So ist das Leben eben, setzte er in Gedanken hinzu, und aus der Unbekannten könnte ja ganz schnell eine Bekannte werden. Wozu wohnt man denn Tür an Tür?
Stefan riß sich zusammen und besann sich auf seine ursprüngliche Absicht, einen Kaffee zu trinken. Im Garten des Hotels herrschte großer Andrang. Die meisten Tische waren besetzt, aber er hatte Glück und durfte sich zu einem älteren Ehepaar setzen, das ohnehin bezahlen und gehen wollte. Als die Bedienung kam, bestellte er Kaffee und ein Stück Apfeltorte, die hausgemacht war und sehr lecker, wie das Ehepaar erzählt hatte.
Die Bestellung kam rasch, und Stefan lehnte sich behaglich zurück, nachdem er den wirklich herrlichen Kuchen verspeist hatte. Er beobachtete die anderen Gäste, aber immer wieder schweiften seine Gedanken zu der jungen Frau ab. Er war neugierig, ob es ihm gelingen würde, sie näher kennenzulernen. Offenbar reiste sie allein, denn schließlich bewohnte sie wie er ein Einzelzimmer in der Pension.
Allerdings mußte das nicht zwangsläufig heißen, daß sie ungebunden war. Er stellte sich vor, wie er hier mit ihr saß, vielleicht an einem lauen Abend, sie schauten sich an, dann faßten sie sich an den Händen und…
Mensch, komm zurück auf den Teppich!
Dieser Gedanke durchzuckte ihn wie ein Blitz, und da war sie wieder, die Realität. Er war nicht in Urlaub gefahren, um eine Frau kennenzulernen, sondern um zu überlegen, wie er es verhindern konnte zwangsverheiratet zu werden. Silvia Schönauer mochte noch so attraktiv sein und die Erbin eines Millionenvermögens, Stefan wollte weder sie noch das Geld. Letzteres hatte er ohnehin selbst, und die Frau, die er einmal heiraten würde, wollte er sich allein aussuchen.
Wäre da nicht das große Problem, das Geld hieß!
Seit sein Vater ihm von dem Kredit Schönauers erzählt hatte, grübelte Stefan darüber nach, wieso es so weit hatte kommen können. Immer wieder ärgerte er sich darüber, sich so wenig um diese Dinge gekümmert zu haben. Aber das würde er ändern, nahm er sich vor. Einmal abgesehen von dem Problem mit der Hochzeit, die finanziellen Dinge mußten sich doch regeln lassen. Immerhin stand die Firma Kreuzer in dem Ruf, ein solides Unternehmen zu sein. Jede Bank, besonders die, mit der sie seit Jahrzehnten zusammenarbeiteten, würde ihnen einen größeren Kreditrahmen einräumen.
Warum um alles in der Welt hatte sich sein Vater nur mit diesem Schönauer eingelassen?