Er reichte seiner neuen Bekannten die Hand.
»Ich wünsch’ Ihnen einen schönen Urlaub, Frau Kramer. Und wenn S’ mögen, dann schauen S’ mal in der Kirche vorbei. Ich führ’ Sie dann gern herum und zeige Ihnen alles.«
»Das mache ich gern, Hochwürden«, antwortete sie. »Und noch mal vielen Dank für alles.«
»Gern gescheh’n«, nickte der Bergpfarrer. »Also, pfüat euch zusammen, und, Marion, grüß mir den Andreas. Ich schau bei Gelegenheit vorbei.«
Und schon war er aus der Tür.
»So, dann zeige ich Ihnen erst einmal das Zimmer«, sagte Marion und nahm den Schlüssel vom Brett.
Die Einzelzimmer lagen im Erdgeschoß der alten Villa, die Andreas Trenker zu einer Pension umgebaut hatte. Es waren große, komfortabel eingerichtete Räume, jeder mit einem eigenen Bad. Johanna sah sich erstaunt um und freute sich. Sie hatte gar nicht damit gerechnet, daß das Zimmer so schön sein würde.
»Da möchte man am liebsten ja gar nicht wieder fort«, sagte sie.
»Schön, daß es Ihnen gefällt, Frau Kramer«, nickte Marion. »Frühstücken können Sie ab sieben Uhr, aber die meisten ziehen es vor, im Urlaub auszuschlafen. Jedenfalls brauchen Sie keine Sorge zu haben, wir servieren bis elf Uhr. Außer natürlich, Sie wollen eine Bergtour machen und stehen früh auf. Dann sollten Sie uns bitte am Abend vorher Bescheid geben, damit wir ein Frühstück für Sie vorbereiten können.«
»Ich habe nicht vor, eine Bergtour zu machen.« Sie schüttelte den Kopf.
»Na, wer weiß«, lachte Marion. »Da ist schon so mancher auf den Geschmack gekommen, wenn er erst einmal aus der Ferne gesehen hat, wie schön die Gipfel sind. Aber wie auch immer, es gibt noch viele andere Möglichkeiten, sich hier bei uns zu vergnügen. Und jetzt laß ich Sie erst einmal in Ruhe auspacken, und wenn Sie dann Lust auf einen Kaffee haben, dann kommen Sie einfach in den Garten.«
Johanna lächelte. So viel Fürsorge hatte sie gar nicht erwartet. Aber es war schön.
Nachdem die Pensionswirtin gegangen war, öffnete sie die Tür zum Bad. Johanna trat an das Waschbecken und ließ das kalte Wasser laufen.
Ah, tat das gut!
Mehrere Male schöpfte sie mit beiden Händen das kalte Naß und fuhr sich damit über das Gesicht. Dann schaute sie in den Spiegel. Die zur Schau gestellte Miene war abgefallen, ihr Antlitz glich nun einer Maske.
»Und jetzt?« murmelte sie. »Was fange ich jetzt an?«
*
Stefan Kreuzer fuhr die Auffahrt zur Villa hinauf. Rechts und links war sie von Bäumen gesäumt, dahinter breitete sich auf beiden Seiten ein gepflegter Rasen aus. Hinter dem Wagen war das schwere Tor, das den Zugang zum Anwesen versperrte, lautlos ins Schloß gefallen. Die auf der Mauer installierten Überwachungskameras schreckten jeden Eindringling ab, Besucher mußten es sich gefallen lassen, daß sie zuerst ins Visier genommen wurden, ehe man sie hereinließ.
Vor der großen weißen Villa kam der Sportwagen zum Stehen. Das Dach des Cabrios war geöffnet, und der junge Mann sprang mit einem sportlichen Satz hinaus.
Oben am Fenster im ersten Stock sah Stefan eine Bewegung hinter der Gardine. Er schmunzelte, als er sich das mißbilligende Kopfschütteln seines Vaters vorstellte, der am Fenster gestanden und die Ankunft des Sohnes beobachtet hatte.
Noch ehe er die Haustür erreicht hatte, wurde sie geöffnet, und Tante Grete trat heraus. Eigentlich hieß sie Margarete Hösch und war auch nicht mit der Familie verwandt. Die inzwischen über Sechzigjährige arbeitete aber seit mehr als vierzig Jahren als Haushälterin bei den Kreuzers, und Stefan hatte sie schon immer Tante genannt. Schließlich war sie mehr als nur eine Angestellte und hatte ihm so manchen Klaps gegeben, wenn er als kleiner Bub zu viel Unsinn angestellt hatte.
»Junge, du weißt doch, daß dein Vater auf Pünktlichkeit besteht«, tadelte sie seine Verspätung.
Stefan lachte und gab ihr einen Kuß auf die Wange.
»Ich kann nichts dafür«, erwiderte er. »Ehrlich, Tante Grete, auf der Autobahn war so viel los, ich konnte die meiste Zeit kaum mehr als Hundertsechzig fahren.«
Die alte Dame schüttelte den Kopf.
»Red’ doch nicht solchen Unsinn!« sagte sie. »Außerdem bist du wieder aus deinem Auto gesprungen wie ein Sportler über die Hürde. Das ärgert deinen Vater genauso wie unpünktliches Erscheinen.«
»Der beruhigt sich wieder«, winkte Stefan ab. »Wo ist Mutter?«
»Bei ihren Bridgedamen, wie jeden Montagnachmittag.«
»Stimmt ja. Hatte ich vergessen. Gut, ich sehe sie heute abend. Jetzt gehe ich erstmal hinauf.«
Er war schon an der Treppe, dort drehte er sich wieder um.
»Ach nee, erstmal einen Kaffee«, meinte er.
»Gibt’s noch welchen?«
Im Hause Kreuzer wurde jeden Nachmittag, pünktlich sechzehn Uhr, Kaffee serviert. Inzwischen war es aber schon eine halbe Stunde darüber.
»Ja, geh nur hinauf«, nickte die Haushälterin. »Das Mädchen bringt gleich frischen.«
Stefan seufzte.
»Du läßt mir aber auch überhaupt keine Chance, dem Strafgericht zu entgehen«, klagte er mit gespielter Büßermiene.
»So schlimm wird es schon nicht werden«, entgegnete Tante Grete. »Es sei denn, du läßt deinen Vater noch länger warten.«
»Bin schon oben«, rief er und sprang die Treppe hinauf.
Das Arbeitszimmer seines Vaters lag am Ende des Flures, von dem rechts und links Gästezimmer, Bäder und andere Räume abzweigten. Stefan schritt über den kostbaren Orientteppich, der jeden Schall schluckte, und drückte die Klinke herunter.
Kurt Kreuzer stand immer noch am Fenster und starrte hinaus. Dabei hatte er die Hände auf dem Rücken und wirkte im ersten Moment wie eine Statue.
»Hallo, da bin ich«, sagte Stefan und schloß die Tür hinter sich.
Sein Vater regte sich nicht. Erst nachdem ein paar Sekunden verstrichen waren, drehte er sich langsam um und sah ihn schweigend an.
»Ich hatte dich pünktlich um vier erwartet«, erwiderte er endlich.
»Es tut mir leid.«
Kurt Kreuzer schnitt seinem Sohn mit einer Handbewegung das Wort ab.
»Setz dich bitte. Ich habe was mit dir zu besprechen.«
Stefan zog die rechte Augenbraue in die Höhe. An sich war er einen anderen Ton gewöhnt, streng und unnachgiebig. Doch zu seinem Erstaunen hatte sein Vater tatsächlich einmal »bitte« gesagt.
Ganz abgesehen davon, daß er sich jeden Kommentar zur Verspätung seines Sohnes verkniffen hatte!
Kurt Kreuzer bewegte sich endlich vom Fenster fort. Er setzte sich in den Sessel hinter seinem Schreibtisch und sah Stefan merkwürdig an, als blicke er durch ihn hindurch. Der registrierte, daß sein Vater sich auf die Unterlippe biß und nach Worten zu suchen schien.
»Also, mach’s nicht so spannend«, bemerkte er.
»Tja, wie soll ich anfangen?«
Der Vater sah den Sohn direkt an.
»Stefan, es ist etwas eingetreten, das die Firma und dich betrifft«, sagte er endlich.
»Sind wir etwa pleite?«
»Laß diesen Unsinn.« Kurt Kreuzer schüttelte den Kopf. »Obwohl…, es könnte darauf hinauslaufen.«
Stefan riß die Augen auf.
»Wie bitte?«