„Das war früher einmal.“ Ich konnte mich noch erinnern, als in den heißen Jahreszeiten manchmal durch das Fieber sowieso überhitzte Schweine infolge des zusätzlichen Stresses zu krampfen und blau anzulaufen begannen. Ein Kübel kaltes Wasser schwungvoll über den Rücken gegossen, verhinderte den drohenden Kreislaufkollaps.
„Mittlerweile handelt es sich um eine Ganzjahreskrankheit, obwohl die meisten Fälle noch immer, wie Sie richtig sagen, im Sommer auftreten!“
„Na, wenn es weiter nichts ist, eine Spritze und die Sache ist erledigt“, meinte der Winkler aufgeräumt. Mit Rotlauf hatte er genügend Erfahrung.
Ich zweifelte, ob Bert die Sache mit der Spritze auch so gelassen aufnehmen würde.
Er war immerhin ein über zweihundert Kilo schweres Bröckerl und Eber sind im Allgemeinen ziemlich wehrhaft. Als ich das Penicillin aus dem Auto holte, nahm ich zur Sicherheit die Rüsselbremse mit. Das ist eine Schlinge aus massiv gedrehtem Stahldraht, die man zwischen Mundhöhle und Oberkiefer einfädelte und mittels Griff nach oben hin zuzog. Es ist dabei aber wichtig, wenn das Tier Abwehrbewegungen macht, den Zug ja nicht zu lockern, sonst kommt der Kopf wieder frei.
Aber zuerst wollte ich es erstmals ohne das Zwangsinstrument versuchen. Es gibt da bei Schweinen den Trick, die Nadel ganz langsam unter die Haut zu schieben, nur nicht schnell zustechen. Wenn man den Patienten dann noch ablenkt, entweder mit Futter oder Streicheln, kann man in vielen Fällen so ein Medikament hinter den Ohrgrund injizieren.
Bei Bert funktionierte das nicht. Kaum hatte ich ihn nur mit der Hand berührt, von der Nadel war noch keine Rede gewesen, fuhr er hoch und ließ ein aggressives Grunzen hören.
Also doch die Rüsselschlinge!
„Sie müssen mir helfen“, sagte ich zum Winkler. Bert war über den doppelten Besuch in seinem Pferch überhaupt nicht amüsiert, aber ich konnte ihm nicht helfen, wenn ich ihm helfen wollte. Mit der Schlinge war es wie mit dem Lasso. Der erste Versuch sollte sitzen! Zu meiner großen Freude gelang mir das auch. Blitzschnell drückte ich dem Winkler den Griff in die Hand: „Ziehen!“
Bert protestierte schreiend, dass uns fast die Trommelfelle platzten. Ich kenne ein paar alte Schweinepraktiker, die immer ohne Gehörschutz gearbeitet hatten und im Alter dann auf die Frage nach der Uhrzeit geantwortet haben: „Ja, ich glaube, es wird Regen geben.“
Der Winkler schwitzte vor Anstrengung, um das tobende Biest an der Angel zu halten: „Beeilen Sie sich, Herr Doktor“, schnaufte er.
„Tu ich ja!“ Jetzt war die Einstichgeschwindigkeit egal, ich bohrte Bert die Nadel ins Fleisch und drückte ab.
„So, Sie können ihn loslassen.“ Dazu gab es am anderen Ende der Rüsselbremse einen Ring, wenn man daran zog, öffnete sich die Schlinge.
Der Winkler tat, wie ihm geheißen, und hechtete anschließend über die Plankenwand.
Mein Fehler war es, Bert den Rücken zugedreht zu haben, als mir die Spritze hinunterfiel. Instinktiv bückte ich mich, ich hörte den Winkler noch schreien: „Achtung!“, da war der rachsüchtige Saubär schon da und biss zu. Ein brennender Schmerz an meiner rechten Gesäßbacke trieb mir die Tränen in die Augen.
Eber haben normalerweise meißelscharfe Hauer, mit denen sie einen mühelos aufschlitzen können. Zum Glück hatte Berts seinerzeitiger Züchter ihm die Eckzähne schon im Ferkelalter entfernt, aber es blieben ihm, wenn mich meine Anatomiekenntnisse nicht trogen, noch immer zweiundvierzig andere.
Ich machte es dem Winkler nach und setzte im Flugsprung aus dem Gehege.
Der Winkler starrte auf die Kehrseite meiner Medaille: „Er hat Sie erwischt!“
„Das habe ich gemerkt.“ Ich griff nach hinten und das Erste, was ich in die Finger bekam, war ein loser, nasser Fetzen Hosenstoff. Als ich die Hand zurückzog, war sie voller Blut.
Der Winkler verlor einen Gutteil seiner infolge der Heuarbeit erworbenen Sonnenbräune und stotterte: „Sie bluten ja wie ein Schwein, Entschuldigung. Sie müssen sofort ins Krankenhaus, ich rufe die Rettung!“
Krankenhaus! Das hätte mir gerade noch gefehlt!
„Ich weiß was Besseres“, stöhnte ich, „ich fahr’ schnell zum alten Lamprechter in die Praxis, der ist noch ein Landarzt von altem Schrot und Korn, der näht so was in Nullkömmanix.“
„Dann bringe ich wenigstens was zum Verbinden! Sie schauen ja aus, furchtbar!“
Da ich hinten keine Augen hatte, versetzte mich die Schilderung vom Winkler doch in einige Sorge: „Danke, aber ich habe mehr Verbandszeug an Bord als eine ägyptische Mumie im Sarkophag.“
Ich hinkte zum Auto. Unterwegs spürte ich, dass das gesamte Hosenbein immer feuchter wurde. Die Blutung musste wirklich erheblich sein.
Ich stopfte mir einen Ballen Zellstoff in das Hosenloch, dabei ertasteten meine Finger ein großes Stück Sitzfleisch, das aus dem Zusammenhang gerissen schien. Damit der Autositz nicht auch noch etwas abbekam, breitete ich etliche Lagen Rektalhandschuhe darauf, ehe ich Platz nahm und den Motor startete. Man sagt mir in unserer Gegend gerne nach, dass ich mehr auf dem Gaspedal stehe, als auf dem Sitz zu sitzen, in diesem Fall hielt ich es für gerechtfertigt. Ebenso das Blaulicht einzuschalten, warum sollte es nicht einmal mir zugutekommen?
Unterwegs wählte ich die Nummer vom Lamprechter. Keine Ahnung, ob er gerade Ordination hatte, ich probierte es einfach. Zu meiner riesigen Erleichterung hob er ab.
„Nein, ich habe zur Zeit keine Sprechstunde“, erklärte er, „um was geht es?“
Als ich ihm mein Problem geschildert hatte, kam ein Lachen aus dem Lautsprecher: „Ich habe bisher immer geglaubt, der einzige Unterschied zwischen Human- und Veterinärmedizin ist der, dass Ihr fallweise Eure Patienten esst. Dass es auch umgekehrt sein kann, ist mir neu. Also, dann schauen wir uns die Sache halt an.“ Das war noch das Prinzip dieser hippokratischen Generation, allzeit bereit, wie die Pfadfinder.
Lamprechter zählte tatsächlich noch zu der aussterbenden Spezies universeller Landärzte. In der heutigen Gesellschaft kam sein rustikales Wesen nicht so gut an, deshalb waren viele seiner möglichen Patienten zu anderen Ärzten gewechselt.
Aber die, die geblieben waren, konnten auf eine verlässliche Diagnose und eine erfolgversprechende Behandlung, auch mit aus der Mode gekommenen Hausmitteln, vertrauen. Und da er kurz vor der Pension stand, waren ihm die Abtrünnigen schnurzegal, um es vornehm auszudrücken.
Er war hochgewachsen und trug die buschigsten Augenbrauen, die ich je gesehen hatte.
Als er meinen Hintern begutachtet hatte, zuckten sie mit einer Heiterkeit, die ich im Moment für nicht ganz angebracht hielt.
„Ganz schöne Schweinerei in Ihrer Stelze! Da ist eine Vene ordentlich erwischt worden. Los rauf auf die Ordinationsliege.“
Bevor er den ersten Stich setzte, fragte er über den Brillenrand hinweg: „Wollen Sie eine Narkose?“
„Ich habe Mensuren gefochten und neunundsechzig Nähte am Kopf, ohne Betäubung. Ich glaube, ich werde das am Gegenpol auch aushalten.“, erklärte ich trotzig.
„Wunderbar,“ grinste er, „ich liebe Helden!“
„So, eine Tetanusspritze noch und ein Antibiotikum und Tabletten gegen die Schmerzen“, sagte er, nachdem er die Arbeit beendet hatte.
Er besah sein Werk wie eine Brautmutter, die soeben mit der Näherei der Aussteuer für das Töchterlein fertig geworden war. „Jetzt haben Sie einen weiteren Schmiss, aber an einer Stelle, die zum Renommieren wenig taugt.“
Weil er kein Frisör war, hielt er mir keinen Spiegel vor, dass ich mich von hinten betrachten konnte, dafür kam er mit zwei Schnapsgläsern und einer Flasche Birnenbrand: „Gegen den Flüssigkeitsverlust“, meinte er schmunzelnd.
„Vielen Dank. Was bin ich schuldig?“
„Aber Herr Kollege. Doch nicht unter uns Medizinern!“