Der letzte Prozess. Thomas Breuer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Breuer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839265208
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Von Anruf zu Anruf wurde die Stimme ungeduldiger und die für ihn charakteristischen Flüche nahmen zu. Brenner war wohl der größte Proll, dem Heller jemals begegnet war.

      Zum letzten Mal hatte der Chefredakteur es um 19 Uhr versucht: »Verdammt, Heller, wo steckst du denn? Kannst du nicht einmal dein Handy mitnehmen, verflucht noch mal? Wir warten hier auf deinen Bericht vom Prozess. Wenn du dich bis morgen Mittag nicht meldest, rufe ich Rogalski an. Dann kannst du dir den Auftrag in den Arsch schieben, verlass dich drauf. Immer so ein Affentheater mit dir! Scheiße, Mann!«

      Fabian Heller musste grinsen, als er sich vorstellte, wie Brenner als Rumpelstilzchen um seinen Schreibtisch herumgesprungen und immer wütender geworden war. Allein um das jeden Tag sehen zu können, hätte er gerne eine Festanstellung bei der Zeitung gehabt. Nebenbei wäre er dann endlich abgesichert gewesen. Aber heutzutage konnte man froh sein, wenn man hin und wieder als freier Mitarbeiter einen Auftrag über den Zaun geworfen bekam. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Redaktion.

      »Na endlich«, schnauzte Brenner. Offensichtlich hatte er Hellers Telefonnummer auf dem Display erkannt. »Wo steckst du denn den ganzen Tag? Ich sitze hier auf heißen Kohlen, während der Herr sich fröhlich irgendwo die Eier schaukelt. Demnächst wird das Nazischwein in Detmold verurteilt und wir kriegen das nicht mit. Scheiße, Mann!«

      Fabian Heller ignorierte die Pöbelei, weil Widerspruch bei Brenner eh zu nichts geführt hätte. Stattdessen erinnerte er den Chefredakteur daran, dass heute der erste Prozesstag gewesen war, von Urteil also weit und breit noch keine Spur. Dann berichtete er kurz von den Ereignissen im Gerichtssaal, die nach der ersten Zeugenaussage ein jähes Ende gefunden hatten, da die für den Angeklagten zumutbare Zeit abgelaufen war.

      »Na bitte, da hattest du ja Zeit genug, den Bericht zu schreiben.«

      Heller überlegte, ob er von seinem Besuch im Haus seiner Mutter erzählen sollte, aber das hätte Brenner nicht verstanden. »Ich bin da noch einer anderen Sache nachgegangen«, flunkerte er stattdessen. »Heute Morgen hat eine alte Holocaust-Leugnerin versucht, in den Sitzungssaal zu kommen. Eine junge Aktivistin hat das verhindert. Tolle Geschichte, sagt viel über das Umfeld aus, in dem der Prozess stattfindet.«

      »Und das hat den ganzen Nachmittag gedauert, oder was?«

      »Jedenfalls habe ich jetzt etwas, das die anderen Zeitungen so nicht bringen werden.«

      »Na ja, abwarten, ob das was taugt. Wann habe ich es in meinem Postfach?«

      »Gib mir eine Stunde.«

      Brenner schnaufte ungehalten. »Was ist mit Bildern? Ich hoffe, du hast Fotos von Hanning gemacht.«

      Mist, dachte Heller, jetzt hatte Brenner ihn an der Gurgel. »Nein, keine Fotos«, gab er betreten zu.

      »Wie bitte? Keine Fotos? Verfluchte Scheiße, Heller, ich will, dass das Grauen ein Gesicht bekommt. Eine Fresse, in die man reinschlagen möchte, wenn man deinen Bericht liest.«

      »Das funktioniert aber nicht. Du hättest den Alten sehen sollen. Typ lieber Opa. Wenn unsere Leser den sehen, bekommen sie am Ende noch Mitleid mit dem Dreckskerl. Da ist es besser, man zeigt seine Visage erst gar nicht.«

      Einen Moment blieb es still am anderen Ende. Heller konnte nicht entscheiden, ob Brenner seine Argumente langsam verarbeitete, oder ob er einfach nur sprachlos war über so viel Unverfrorenheit.

      »Also gut, Heller, ich lasse dir das ausnahmsweise durchgehen«, kam es unerwartet zurück. »Aber dann will ich demnächst Fotos von den Opfern. Wenn wir schon keine Wut gegen den Täter erzeugen können, will ich bei unseren Lesern wenigstens Mitleid mit den Opfern. Leser, die nichts fühlen, wenn sie unser Blatt lesen, laufen uns weg zur Blöd-Zeitung. Und das kannst ja wohl selbst du nicht verantworten.«

      Was heißt hier ›selbst ich nicht‹, wollte Heller schon fragen, aber dann entschied er sich dagegen. Manchmal war Schweigen besser, vor allem im Umgang mit Cholerikern wie Brenner. Sollte der Idiot doch glauben, dass er das letzte Wort behielt.

      »Ich mache mich dann mal an die Arbeit«, sagte er stattdessen und bemühte sich um einen reuigen Tonfall.

      »Moment. Verflucht, jetzt hätte ich das Wichtigste fast vergessen«, beeilte sich Brenner. »Scheiße, Mann, ich werde alt. Also, pass auf: Du bist ja sowieso ständig auf dem Weg nach Ostwestfalen. Da gibt es so ein Kaff in der Nähe von Paderborn, das heißt Wewelsburg. Sagt dir das was?«

      Irgendwas klingelte da bei Heller. Er kramte in seinen Gehirnwindungen, bis schließlich ein Schild an einer Auto­bahnabfahrt auf der A 33 zwischen Paderborn und dem Kreuz Wünnenberg-Haaren in seiner Erinnerung auftauchte. »Deutschlands einzige Dreiecksburg«, rezitierte er, als müsse das jeder wissen, weil man es in der Schule eingebimst bekam – so wie ›Drei drei drei, bei Issos Keilerei‹ oder ›tensixtysix, William the Conquerer conquers England‹.

      »Genau. Himmlers Burg«, verkündete Brenner. »Und die steht, wenn man den Annalen glauben will, auf nicht weniger als dem Mittelpunkt der Welt. Genau da ist letzte Nacht ein alter Knacker über die Wupper gegangen – beziehungsweise über die Alme, die da fließt.«

      »Momentchen. In einem Kaff in Ostwestfalen stirbt ein alter Mann, richtig? Kannst du mir mal verraten, was daran so besonders ist? Wenn das schon eine Meldung wert ist, brauche ich Hamm nicht zu verlassen; hier stirbt jeden Tag irgendjemand an Altersschwäche.«

      »Da hättest du recht«, ging Brenner scheinbar auf das Argument ein, »wenn der Alte einfach so entschlafen wäre.«

      »Ist er aber nicht?«

      »Ist er aber nicht. Der wurde von einem Felsen erschlagen. Soll kein schöner Anblick gewesen sein.« Brenner lachte leise meckernd.

      »Ich verstehe immer noch nicht«, wandte Heller ein. »Auch das soll auf Butterfahrten und Seniorenausflügen gelegentlich vorkommen. Sind ja nicht mehr ganz so rüstig, die alten Leute, und klettern überall rum, wo sie nicht sollen. Da kommt dann schon mal ein Steinchen ins Rutschen. Und wenn du dann ungünstig stehst …«

      »Jetzt warte doch erst mal ab, Mann!«, wurde Brenner ungehalten. »Der Alte hatte in dem Kaff gar nichts zu suchen. Der war auf keiner Butterfahrt, sondern er ist drei Tage vorher mit seinen über neunzig Jahren aus einem Altersheim im Nachbarort Büren verschwunden. Das liegt immerhin 10 Kilometer entfernt.«

      »Bisschen weit mit dem Rollator«, gab Heller zu. »Erklärt aber, warum er drei Tage gebraucht hat.«

      »Quatsch! Meine Spione bei der Kripo in Paderborn haben mir zugeflüstert, dass der Alte vor seinem Tod gefoltert worden ist. Der Felsen soll auch nicht irgendwo auf morsche Knochen geprallt sein, sondern seine Rübe zermalmt haben. Regelrecht zermatscht hat es den. Und ordentlich ausgepeitscht worden soll er vorher auch noch sein.« Brenner lachte dreckig. Für Heller wurde nicht ersichtlich, was daran so lustig war.

      Er pfiff leise durch die Zähne. »Jetzt verstehe ich. Der ist nicht einfach nur aus seiner Seniorenresidenz abgehauen, um auf seine alten Tage noch einmal durchs Paderborner Land zu krauchen, bevor der Deckel über ihm zuklappt. Der ist entführt und grausam gemeuchelt worden.«

      »Na bitte, so langsam scheinst du zu begreifen. Und es kommt noch besser: In letzter Zeit ist die Sterberate in dem Greisengehege in Büren sprunghaft angestiegen. Nachtigall, ick hör dir trapsen! Also, Heller, was ist? Übernimmst du den Job, oder soll ich Rogalski die Kohle zuschieben? Der kriegt dann aber auch den Prozess, damit das mal klar ist. Ich zahle doch nicht zweimal Fahrtkosten und Spesen.«

      »Apropos Kohle: Ich bekomme den üblichen Tagessatz – zusätzlich zu der Prozess-Sache.«

      Heller hatte schon das Gefühl, sein Blatt nun endgültig überreizt zu haben und die Story los zu sein, als Brenner zu seinem Erstaunen antwortete: »Kriegst du, Alter, kriegst du. Aber dafür will ich auch etwas haben. Reicher mir die knochige Brühe mit reichlich Fleisch an. Du weißt schon, was ich brauche. Ich verlasse mich da auf deinen Riecher; lang genug ist der ja. Und diesmal will ich Fotos haben – je unappetitlicher, desto besser. Miete dich in Wewelsburg ein, schnupper Dorfluft. Mach ein paar Tage Urlaub am Mittelpunkt der Welt auf meine Kosten.