Der letzte Prozess. Thomas Breuer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Breuer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839265208
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auf die Idee, dass es sich um einen nicht natürlichen Tod gehandelt hat?«

      »Keine Ahnung. Es ist eben einfach schwer, zu sehen, wie in diesem Alter ein Weggefährte nach dem anderen stirbt. Wenn da irgendetwas faul gewesen wäre, hätte Frau Dr. Reuther das gemerkt.«

      »Danke«, schloss Lenz die Befragung. »Sie können jetzt gehen.«

      Gina Gladow hatte die ganze Zeit über wie unbeteiligt danebengestanden. Nun blickte sie Lenz herausfordernd an.

      »Ich denke, wir kommen hier jetzt nicht weiter«, sagte der und wandte sich Kerstin Finke zu. »Die Kollegen von der Spurensicherung werden sich heute noch Herrn Kottmanns Zimmer ansehen. Sorgen Sie bitte dafür, dass niemand es bis dahin betritt. Sobald der DNA-Abgleich gemacht wurde und wir Klarheit haben, melde ich mich bei Ihnen.« Er reichte ihr noch einmal die Hand und nickte ihr freundlich zu. Dann folgte er seiner Kollegin, die schon die Treppe hinablief, ohne sich von der Leiterin zu verabschieden.

      Unten in der Halle winkte Gina Gladow Mario lächelnd zu.

      »Bis bald?«, rief der Marley-Darsteller hinter ihnen her.

      »Vielleicht!« Die Kommissarin lachte.

      Als Lenz auf dem Beifahrersitz Platz nahm und sie sich hinter das Steuer schwang, sagte der Hauptkommissar grimmig: »So etwas will ich nicht noch einmal erleben!«

      »Was genau meinen Sie?«, hakte die Kommissarin unbeeindruckt nach, startete den Motor und wendete den Wagen routiniert in einem einzigen Anlauf.

      »Dass Sie so mit Zeugen umgehen, wie Sie das mit Frau Finke gemacht haben.«

      »Die hat Ihnen gefallen, was?«

      »Jetzt werden Sie nicht auch noch unverschämt! Frau Finke ist für die Bewohner der Senioren-Residenz verantwortlich. Da ist es ja wohl ganz normal, dass sie Schuldgefühle entwickelt, wenn einer mir nichts, dir nichts verschwindet und drei Tage später ermordet aufgefunden wird.«

      »Von Schuldgefühlen habe ich bei der Dame nichts bemerkt«, widersprach Gina Gladow. »Obwohl die ja wirklich angebracht wären. Im Übrigen muss man schon verdammt abgebrüht sein, wenn man alte Nazis beherbergt.«

      »Nein, als Leiterin eines Altersheimes muss man sehen, dass man die Kosten deckt. Da sind alle zahlungskräftigen Kunden ein Segen. Und was die Alten angeht: Wenn die sich etwas hätten zuschulden kommen lassen, wären sie nach 1945 verurteilt worden.«

      Nun lachte Gina Gladow laut auf. »Wo leben Sie eigentlich? Glauben Sie etwa auch noch an den Klapperstorch? Von denen ist doch kaum einer vor Gericht gekommen. Und wenn doch, dann wurden die Verfahren verschleppt. Die gesamte Justiz und selbst die Adenauer-Regierung waren braun verseucht. Die alten Kameraden haben schon dafür gesorgt, dass keinem von ihnen etwas passiert.« Sie schüttelte den Kopf und schnaufte grimmig. »Das ist ja selbst heute noch nicht anders. Sehen Sie sich doch die Prozesse der letzten Jahre an. Welcher der alten Verbrecher wird denn noch nennenswert verurteilt? Sogar Neonazis können jahrelang ungehindert und gedeckt durch unsere Verfassungsschutzorgane morden. Und wenn sie dann vor Gericht stehen, wie Beate Zschäpe, dauert so ein Prozess Jahre, weil der Rechtsstaat den Tätern die Füße leckt. Wir machen uns doch lächerlich!«

      »Was vor Gericht passiert, liegt nicht in unserer Verantwortung«, sagte Lenz so gleichmütig wie möglich. »Wir sind für die Strafverfolgung zuständig. Und Frau Finke hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Deshalb ein für alle Mal: So einen Auftritt wie heute erlauben Sie sich nicht noch einmal. Habe ich mich da klar ausgedrückt?«

      »Glasklar, Chef.« Gina Gladow grinste ihn spöttisch von der Seite an. »Von jetzt an kusche ich und mache Männchen, wenn Sie den Raum betreten.«

      Lenz hatte Mühe, nicht laut zu werden, als er sich ihr nun ganz zuwandte. »Sie behandeln Ihre Vorgesetzten ab sofort respektvoll und akzeptieren die dienstliche Hierarchie. Sonst werde ich persönlich dafür sorgen, dass Ihre Karriere bei der Kriminalpolizei ein schnelles Ende findet. Und das täte mir aufrichtig leid, denn Sie scheinen im Grunde eine sehr gute Polizistin zu sein.«

      Gina Gladow starrte von nun an stur geradeaus, während Lenz aus seinem Seitenfenster blickte und die Landschaft an sich vorbeiziehen ließ, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Er brauchte Zeit, bis seine Wut verraucht war. Was war nur mit ihm los, dass er sich derart aus der Reserve locken ließ?

      Die letzte Szene in der Empfangshalle der Senioren-Residenz drängte sich wieder in sein Gedächtnis. Marios Grinsefresse tauchte vor ihm auf und er dachte über die unterschiedlichen Reaktionen seiner jungen Kollegin auf ihn während der Hinfahrt und auf Filz-Mario nach. Daraus sollte mal einer schlau werden. Das ließ sich tatsächlich allenfalls durch den Altersunterschied erklären.

      »Sie können ruhig laut denken«, ätzte Gina Gladow vom Fahrersitz aus. »Ich durchschaue Sie sowieso.«

      Verfluchte Hexe, dachte Lenz. Statt zu antworten, biss er sich auf die Zunge und für einen Augenblick loderte vor seinem geistigen Auge ein Scheiterhaufen auf. Aber wirklich nur für einen ganz kurzen Augenblick.

      9

      Fabian Heller

      – freier Journalist –

      – Recherchen aller Art –

      Das Messingschild neben der Tür des Mehrfamilienhauses im Pählenweg im Hammer Stadtteil Westtünnen war halb von einem weiß-grünen Plädderschiss verdeckt. Bevor Heller die Haustür aufschloss, wischte er den Vogeldreck mit einem Papiertaschentuch ab. Er betrat den Hausflur und öffnete seinen Briefkasten. Ein Stapel Briefe und jede Menge Werbung quollen ihm entgegen. Er stöhnte leise auf, sortierte die Hochglanzbroschüren aus, die überwiegend von Discountern stammten, verteilte sie auf die benachbarten Briefkästen und erklomm mit seiner Stofftasche und den Briefen in der Hand die Treppe bis in den dritten Stock.

      Bereits auf halber Höhe roch er das muffige Wischwasser und als er die letzte Biegung genommen hatte, kroch seine Etagennachbarin ihm auf den Knien rückwärts die Treppe herab entgegen. Es würde nichts nützen, sie darauf hinzuweisen, dass dies eigentlich seine Wisch-Woche war. Sie wusste das ganz genau und dies war ihre Art, ihn auf seine Pflichtvergessenheit aufmerksam zu machen. Heller hatte den Eindruck, dass sie ihm hinter ihren Fenstern auflauerte und immer genau in dem Moment zu wischen begann, in dem er das Haus betrat. Wie üblich beantwortete sie seinen Gruß auch heute nur mit einem vorwurfsvollen Schweigen und leidend zusammengekniffenen Lippen. Die Frau war noch keine dreißig und schon verbiestert wie eine alte Jungfer. So hat jeder seine eigene Art, sich selbst und anderen das Leben zu vermiesen.

      In der Küche warf er die Briefe auf den Tisch und stellte die Stofftasche auf einen Stuhl. Dann holte er sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, öffnete sie und ließ Flaschenöffner und Kronkorken achtlos auf der Arbeitsplatte zurück. Während er die Flasche mit einem langen Zug halb leerte, schlurfte er durch den kleinen Flur hinüber in sein Büro und ließ sich auf den Drehstuhl fallen. Das rote Lämpchen des Anrufbeantworters auf dem Schreibtisch blinkte. Statt die entgangenen Anrufe sofort abzurufen, erhob er sich unruhig wieder, trat an das Fenster in der Dachgaube und blickte hinaus über die Weiden auf den Hüls, das kleine Wäldchen ein paar hundert Meter entfernt. Ein Turmfalke stand rüttelnd in der dunstigen Luft über dem matten Grün. Plötzlich flog er ein paar Meter weiter und nahm dort erneut seinen Beobachtungsposten ein. Die blattlosen Baumkronen drüben am Wald wiegten sich leicht im Wind. Darüber kündigte sich in den Wolkenschlieren im Übergang von Gelb nach Orange die Dunkelheit an.

      Fabian Heller fühlte sich wie ausgelöscht. Langsam leerte er die Bierflasche und sah zu, wie der Falke, der offenbar aus seiner schwindelerregenden Höhe eine Maus da unten im Gras entdeckt hatte, sich pfeilschnell in die Tiefe stürzte. Triumphierend sicherte das Tier seine Umgebung, bevor es mit schnellen Stößen auf die Beute zwischen seinen Fängen einzuhacken begann.

      Heller ließ die leere Bierflasche auf dem Fensterbrett stehen, auf dem bereits drei andere standen, und wandte sich erneut seinem Schreibtisch zu. Er betätigte mehr aus Pflichtgefühl als aus einem inneren Antrieb heraus die Abruftaste des Anrufbeantworters, die hektisch blinkte.

      Hartmut