Einleitung zum Leben des Ercole Ferrarese
Die Vita Ercole de’ Robertis, der auch unter dem Namen seiner Heimatstadt als Ercole Ferrarese bekannt ist, fällt aus zweierlei Gründen relativ kurz aus. Zum einen entspricht sie damit der nur kurzen Lebensspanne des Quattrocento-Künstlers, zum anderen reflektiert sie den Stellenwert, den Vasari der Lebens- und Werkbeschreibung eines Künstlers beimißt, der abseits von Florenz tätig war.
Mit der Vita Ercole de’ Robertis betritt Vasari ein Terrain, das ihm aufgrund der zeitlichen und geographischen Distanz zum Florenz des 16. Jahrhunderts weniger vertraut ist. Im Quattrocento galt Ferrara, genauer der Hof der Este, als ein Zentrum der Kunst. Insbesondere die Lebenszeit von Ercoles Lehrer Francesco del Cossa (den Vasari mit Lorenzo Costa verwechselt) fällt mit dem Höhepunkt der ferraresischen Malerei um die Mitte des 15. Jahrhunderts zusammen. Ihm widmete Vasari in der ersten Edition der Vita einen langen einleitenden Passus. Ercole, selbst aus Ferrara stammend, behielt nach einem Aufenthalt in Bologna diese Bindung an die Stadt der Este bei. Um 1486 folgte er Cosmè Tura als Hofmaler der Herzogsfamilie nach. In dieser Funktion war er nicht nur für die malerische und bildhauerische Produktion (darunter ein geplantes Reiterstandbild für Ercole I.) verantwortlich, sondern auch für die Dekoration und Ausgestaltung von Festen. So ist bekannt, daß er auch für die Ausstattung (darunter Kleidung, Truhen, Triumphwagen) anläßlich der Hochzeit Isabella d’Estes 1490 in Mantua zuständig war. Zwar hat sich von diesen Werken für den estensischen Hof keines erhalten, doch soll Ercole laut Quellenangaben aus dem Jahr 1493 ein Porträt des Herzogs Ercole I. angefertigt haben, das bei seinem Tod unvollendet gewesen sei.1 1492 begleitete der Künstler den jungen Alfonso d’Este, mit dem er ein freundschaftliches Verhältnis gepflegt haben soll, auf seiner Reise zum Papst nach Rom.
Bereits zu seinen Lebzeiten war er über die Toskana hinaus bekannt. So ehrt ihn unter anderen Giovanni Santi in seinem Künstlergedicht in einem Atemzug mit Antonello da Messina, Giovanni und Gentile Bellini sowie Cosme Turà: »Hor lassando de Etruria el bel paese / Antonel de Cicilia huom tanto chiaro / Giovanbellin ch(e) sue lode en distese / Gentil suo fratre e Cosmo cum lui al paro / Hercule ancora e molti ch’hor trapasso« (Giovanni Santi, Cronica rimata, zit. nach Baxandall 1984, S. 150).
In der Version von 1550 konzipierte Vasari die Vita noch stärker als Lebens- und Werkbeschreibung der ferraresischen Künstler allgemein und als Beispiel der emilianischen Malerei. Gleich zu Beginn setzte er besagte Gegend mit nur wenigen hervorragenden Künstlern scharf von der Kunstregion Toskana ab. Ercole stellte er als einen Schüler dar, der seinem Lehrer folgte und ihn in der Kunst übertraf, jedoch immer ein Künstler der Region blieb. Explizit nannte Vasari nur wenige Werke Ercole de’ Robertis.
In der zweiten Ausgabe von 1568 erweiterte er die Aufzählung nur um eine Arbeit, die Predella für den Hochaltar von San Giovanni in Monte. Obwohl heute weitere Arbeiten von Ercole bekannt sind, ist sein erhaltenes Œuvre sehr klein, so daß uns Vasari zumindest einen Eindruck von dessen ursprünglichem Umfang vermittelt. Allerdings sind Vasari Ercoles Ausmalungen im Palazzo Schifanoia in Ferrara nicht bekannt, die letzterer in seiner Frühzeit zusammen mit Cosmè Tura und Francesco del Cossa um 1470 ausführte. Ebenso schweigt der Künstlerbiograph über die Pala Portuense, eines von Ercoles Hauptwerken. Neben der häufig summarischen Aufzählung von dessen Werken geht Vasari jedoch in einer langen Ekphrasis auf die wichtigsten ehemals in Bologna befindlichen Arbeiten und die malerischen Qualitäten Ercoles ein. Mit treffendem kunsttheoretischem Vokabular gelingt es ihm, den Stil der ferraresischen Malerei einzufangen. Im Detailrealismus, der Verwendung wertvoller Materialien und der Negierung der Perspektive, die seit Alberti zum Standardsystem des frühneuzeitlichen Bildes geworden waren, machen sich der Einfluß der Niederlande ebenso bemerkbar wie die Antikenrezeption durch diverse Motivzitate. Die schmückende und gelehrte Darstellungs- und Erzählweise der Ferrareser Malerschule richtete sich an ein höfisches Publikum, mithin den Kreis von Ercoles Auftraggebern. Mit Ercole de’ Roberti findet auch der Einfluß der venezianischen Malerei Eingang in die ferraresische Malerei, was sich durch klare Architekturen und eine auf die Lichtwirkung abzielende Farbgebung zeigt. Diese Entwicklung war auch Vasari offenkundig nicht entgangen, folgt doch auf die Vita Ercoles die Lebens- und Werkbeschreibung der Brüder Bellini.
Diverse moralisch bewertende Bemerkungen Vasaris, die Ercole als vorbildlichen Schüler, aber auch dem Alkohol zugeneigten Künstler vorstellen, lassen die Vita zu einem ambivalenten, letztlich jedoch überwiegend positiven Porträt des Quattrocento-Malers werden.
CP-K
Bibl.: Manca 1992; Molteni 1995; Conradi 1997, S. 11f. und S. 142–146; Syson 1999; Turner 2000, Bd. II, S. 1355–1359 (Kristen Lippincott); Farinella 2014, S. 28–77.
DAS LEBEN DES MALERS ERCOLE FERRARESE
Vita di Ercole Ferrarese Pittore (1568)
Obwohl lange bevor Lorenzo Costa starb,1 sein Schüler Ercole Ferrarese2 einen hervorragenden Ruf genoss und man ihn zum Arbeiten an viele Orte rief, wollte er (was selten ist) seinen Meister nie verlassen und war damit zufrieden, mit bescheidenen Einkünften und mäßiger Anerkennung bei ihm zu bleiben, statt mit größerem Gewinn und Ansehen für sich alleine zu arbeiten.3 Für diese dankbare Gesinnung hat Ercole um so viel mehr Lob verdient, weil man sie bei den Menschen von heute nur selten findet. Weil er wußte, was er Lorenzo schuldig war, stellte er seine eigenen Bedürfnisse zugunsten der Wünsche seines Meisters hintenan und war ihm bis zum Ende seines Lebens wie ein Bruder und Sohn.
Jener malte, weil sein disegno dem des Costa überlegen war,4 unterhalb der Tafel, die dieser in San Petronio für die Kapelle des Heiligen Vinzenz geschaffen hat, einige kleinfigurige Szenen in Tempera so trefflich und mit einem so schönen und guten Stil, daß man kaum etwas Besseres zu sehen noch sich die Mühe und Sorgfalt auszudenken vermag, die Ercole dafür aufwenden mußte, zumal die Predella ein sehr viel gelungeneres Werk als die Tafel selbst ist, die beide zur selben Zeit geschaffen wurden, als Costa noch am Leben war.5 Nach dessen Tod wurde Ercole von Domenico Garganelli6 angewiesen, die Kapelle in San Petronio fertigzustellen,7 die Lorenzo, wie oben gesagt, begonnen und zu einem geringen Teil ausgeführt hatte.8 Ercole (dem besagter Domenico vier Dukaten im Monat zahlte, zudem für seine und die Auslagen eines Gesellen aufkam wie auch alle Farben stellte, die für das Werk benötigt wurden) machte sich also an die Arbeit und vollendete jenes Werk auf eine Weise, daß er seinen Meister sowohl in disegno und Kolorit als auch in der Erfindung um Längen übertraf.9 Im ersten Teil, sprich auf der Stirnwand, befindet sich die mit großem Urteil ausgeführte Kreuzigung Christi, weil neben dem Christus, der dort bereits tot zu sehen ist, auch trefflich der Tumult der Juden eingefangen wird, die gekommen sind, um den Messias am Kreuz zu sehen, und deren Köpfe wunderbar verschieden gestaltet sind.10 Hier sieht man, wie Ercole mit größtem Eifer darum bemüht war, sie ganz unterschiedlich zu gestalten, damit nicht einer dem anderen auch nur im geringsten ähnlich sehen würde. Es gibt dort auch ein paar Figuren, die vor Schmerz in Tränen ausbrechen und ganz deutlich zeigen, wie sehr er danach strebte, die Wirklichkeit nachzuahmen.11 Es ist dort die Ohnmacht der Madonna zu sehen, was sehr anrührend ist, noch viel mehr aber die ihr zugewandten Marien, die man alle mitleiden sieht, ihre Mienen von einem Schmerz erfüllt, den man sich gerade eben vorzustellen vermag, [wenn man daran denkt, wie es sein muss,] dem Tod des Allerliebsten, das man hat, ins Auge zu sehen und nun auch noch im Begriff ist, das Zweitliebste zu verlieren.12 Unter all den bemerkenswerten Dingen ist dort auch ein Longinus zu Pferd, ein dürres, verkürzt gemaltes Tier, das ungeheuer plastisch wirkt. Und in ihm [Longinus] erkennt man die Gottlosigkeit, die ihn dabei geleitet hat, Christus die Seitenwunde zuzufügen, und die Reue und Bekehrung, als ihm die Erleuchtung zuteil wird. Ebenfalls in ungewöhnlicher Haltung hat er einige Soldaten dargestellt, die mit groteskem Minenspiel und sonderbar bekleidet um Christi Kleider würfeln. Ebenfalls gut gemacht und schön in den Erfindungen sind die Schächer am Kreuz. Und weil Ercole mit großem Vergnügen Verkürzungen malte, die wunderschön sind, wenn man sich gut auf sie versteht, schuf er in jenem Werk einen Soldaten zu Pferd, das seine Vorderläufe hochwirft und scheinbar wie in einem Relief nach vorne tritt; und weil der Wind die Fahne, die er in der Hand