In den 1540er Jahren, in denen die Vita wohl in ihrer ersten Fassung niedergeschrieben wurde, debattierte man im Rahmen der grammatikalischen, rhetorischen und poetologischen Ausbildung sowie der schriftstellerischen Praxis noch lebhaft über das Problem der richtigen Nachahmung. Dabei ging es um die schon in der Antike von Autoren wie Cicero und Quintilian kontrovers diskutierte Frage, ob zur Ausbildung eines eleganten Stils einem einzigen Modell zu folgen sei oder die Stile diverser Schriftsteller in eklektischer Weise imitiert werden sollten. Der seinerzeit bedeutendste Verfechter der imitatio eines zum alleinigen Vorbild erhobenen Literaten – nämlich Cicero – war Kardinal Pietro Bembo. Vincenzo Borghini, der sich schon in jungen Jahren sprachwissenschaftlichen Studien widmete und wie Benedetto Varchi in Florenz zu den Schülern des berühmten Philologen und Humanisten Pier Vettori gehörte, war voller Bewunderung für Bembo, als dieser 1542 während eines Aufenthaltes in Florenz die Badia besuchte und den Benediktinermönchen, zu deren Gemeinschaft auch Borghini gehörte, eine Kostprobe seiner rhetorischen Fähigkeiten gab. Nur ein Jahr zuvor, 1541, war das in drei Büchern gegliederte Werk des Bartolomeo Ricci mit dem Titel De imitatione erschienen, welches die Nachahmung von literarischen Vorbildern im Hinblick auf Ausdruck, Themenwahl und Anordnung des Stoffes systematisierte. Borghini selbst äußerte sich in einer 1542 in Latein verfaßten kurzen Abhandlung zur Frage einer qualitätsvollen Nachahmung.11 In dieser erkannte er Cicero, den ›Vater der Eloquenz‹,12 zwar prinzipiell als mustergültiges Vorbild an, sprach sich aber gleichzeitig für eine fundierte Kenntnis verschiedener Modelle von lateinischer Prosa, auch für das Studium von Stimmen aus, die älteren oder jüngeren Datums als jene Ciceros waren, um so einen eigenen Geschmack entfalten und die Urteilskraft schärfen zu können. Borghini betont sogar an einer Stelle explizit, daß er vorbehaltlos das Urteil Quintilians in dieser Angelegenheit teilen würde.13
Die Rolle Borghinis als Revisor der Torrentiniana und als einer der frühen Berater Vasaris neben jenen Literaten aus dem Umfeld der Accademia Fiorentina wie Pierfrancesco Giambullari, Cosimo Bartoli oder Benedetto Varchi wurde in den letzten Jahren verstärkt in den Blick genommen, und es ist gut möglich, daß der im Verhältnis zur gesamten Vita des Mino da Fiesole breiten Raum einnehmende Prolog auf Borghini zurückgeht oder sogar aus dessen eigener Feder stammt. Der gelehrte Benediktiner war nicht nur mit der imitatio-Debatte bestens vertraut, er war auch ein ausgezeichneter Kenner des rhetorischen Lehrbuchs von Quintilian. Daß die einleitenden Sätze von Quintilians Kapitel zur imitatio inspiriert, ja sogar das Vokabular an manchen Stellen den antiken Quellen entlehnt zu sein scheint, spricht ebenso für diese These wie die Tatsache, daß Borghini noch vor der Drucklegung der ersten Edition der Vite Vasari in einem Schreiben darüber informierte, daß ein Teil der Vita des Mino da Fiesole zwischen seinen Papieren verblieben sei.14 Überhaupt scheint Borghini an dem Bildhauer ein besonderes Interesse gehabt zu haben. Immerhin hatte Mino im späten Quattrocento in der Badia Fiorentina, deren Ordensgemeinschaft Borghini seit 1552 als Prior vorstand, mehrere Grabmäler geschaffen, darunter auch das monumentale Wandgrabmal für den legendären Gründer des Klosters. Borghinis besondere Wertschätzung des Künstlers tritt in der zweiten Edition der Vita offen zutage. Nicht zufällig wurde in den Text die Bemerkung eingeflochten, daß sowohl Herzog Cosimo I. als auch Borghini Marmorbildwerke Minos als Kunstobjekte sammelten, der eine besitze zwei Porträtbüsten von Mitgliedern der Medici-Familie, der andere einen lebensgroßen Christuskopf.15 Die Ehrerbietung durch die beiden Connaisseurs von erstem Rang erfährt durch den Zusatz, Borghini würde besagten Christuskopf unter jenen Kunstobjekten aufbewahren, die er am meisten schätzt, sogar noch eine Steigerung. Dieser Einschub im Text der Giuntina macht deutlich, daß dem Konzept der grazia nach dem Konzil von Trient und nach Gründung der Accademia del Disegno eine größere Bedeutung zukommt. Da Anmut nicht erlernbar, sondern angeboren ist, zeigt sich darin die besondere Begabung des Künstlers, und weil der Begriff im theologischen Kontext auch die göttliche Gnade bezeichnet, läßt sich diese Begabung zudem als eine Gottesgabe und als einen Widerschein des Göttlichen im Kunstwerk verstehen. Zwar hatte Vasari schon in der Editio princeps dem Florentiner Bildhauer Mino bescheinigt, daß er in der Kunst begnadet (»graziato«) gewesen sei, er aber nicht zu jenen gehörte, die ihre Prinzipien beherrschten (»fondato nell’arte«). Dieses Manko an Wissen und Kompetenz scheint in der späteren Fassung des Textes zumindest teilweise durch die Tatsache wettgemacht zu werden, daß die von Mino geschaffenen Werke nicht nur den damaligen Betrachter zu begeistern vermochten, sondern auch Vasaris Zeitgenossen, die mit großem Urteilsvermögen ausgestattet waren, darunter Connaisseurs wie Herzog Cosimo I. und Vincenzo Borghini, die diese Werke aufgrund ihrer grazia emotional affizieren konnten. Die Beherrschung der Regeln war zwar ein Grundanliegen der künstlerischen Ausbildung im Rahmen der 1563 gegründeten Accademia del Disegno, der wahre Künstler zeichnete sich in diesem höfischen Umfeld jedoch primär durch die grazia seiner Werke und deren positive Wirkung auf den Rezipienten aus, der idealiter beim Anblick derselben gefangengenommen werden und in Liebe zu ihnen entbrennen sollte. Daß der Betrachter gemäß Vasari von Minos Werken affiziert wird, ist nur konsequent zu Ende gedacht. In dem Maße, wie Mino selbst von Desiderios Werken ›verzaubert‹ (»invaghito«) ist, weil er in ihnen jene grazia als Abglanz des Göttlichen erkennt, er dank der Gnade Gottes sogar befähigt ist, auch den eigenen bildhauerischen Werken diese Anmut zu verleihen, im selben Maße wird auch der aufmerksame Betrachter beim Anblick der Figuren, die Mino mit grazia schuf, in eine Art entrückten Zustand versetzt und emotional berührt. Über Desiderio, den seine Zeitgenossen schon für seine »somma gratia« gepriesen hatten,16 sagte Vasari in der Einleitung zu dessen Vita bezeichnenderweise: »Eine außerordentlich hohe Verpflichtung dem Himmel und der Natur gegenüber haben jene, die ihre Schöpfungen ohne Mühen mit einer gewissen Anmut hervorbringen, wie man sie den Werken weder durch Studium noch durch Nachahmung verleihen kann, weil sie eine echte Himmelsgabe ist und in einer Weise auf jene Werke herabregnet, daß sie immer ein Maß an Liebreiz und Gefälligkeit mitbringen, die nicht nur auf jene anziehend wirken, die etwas von dem Beruf verstehen, sondern auf viele andere mehr, auch wenn sie nicht dieser Profession angehören. Die Ursache dafür ist jene allem Guten innewohnende Leichtigkeit, die nicht schroff und hart vor Augen steht, wie es oft bei mühseligen und schwierig errungenen Werken geschieht. Jene Anmut und Schlichtheit, die allseits gefällt und für jedermann ersichtlich ist, besitzen alle Werke, die Desiderio schuf«.17
In den Augen Vasaris ist Mino zwar ein Künstler, dem es nicht gelungen ist, einen eigenen Stil auszubilden, der aus Mangel an entsprechendem Studium auch nicht zum Vorbild für andere taugt, dessen Werke dank der göttlichen Gnade jedoch besagte Ausstrahlung haben, die allseits gefällt und von jedermann wahrgenommen wird. Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, wenn es in der 1568er Ausgabe der Vita heißt, Borghini würde sich an einem von Mino geschaffenen lebensgroßen Christuskopf in unbeschreiblicher Weise ergötzen.
SF
Bibl.: Irle 1997; Zuraw 2005; Byington 2013; Ginzburg 2013a; Ginzburg 2013b; Gregory 2014; Marques 2014.
DAS LEBEN DES BILDHAUERS MINO AUS FIESOLE
Vita di Mino. Scultore da Fiesole (1568)