Hexenglut. Historischer Kriminalroman.. Simone Dorra. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Simone Dorra
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783842522862
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Auszug von Anna einiges Aufsehen erregt hat und Martin keine Lust hat auf noch einen Skandal.«

      Der sich wohl kaum vermeiden lässt, wenn er sich eine Frau ins Haus holt, die eigentlich seinen Bruder liebt, dachte Fidelitas und zog schaudernd die Schultern hoch. Nicht zum ersten Mal sehnte sie sich heftig nach dem Frieden ihres Klosters zurück.

      »Das Blatt kann sich für Jörg allerdings durchaus wenden«, fuhr der alte Stöcklin fort. »Der Meister, der ihn die Uhrmacherkunst lehrt, hält große Stücke auf ihn, und er hat außer einer verwitweten Schwester weder lebende Verwandte noch Kinder. Ein halbes Jahr noch, und Jörg hat ausgelernt. Sein Lehrherr hat ihm versprochen, dass er ihn – solange er ihm die Treue hält und weiter so gute Arbeit leistet, wie er es tut – zu seinem Erben macht. Und dann hätte er Veronika weit mehr zu bieten als jetzt.«

      »Gibt es ein Schriftstück, das dieses Versprechen zweifelsfrei beweist?«, wollte Fidelitas wissen. »Vielleicht ein Testament?«

      Stöcklin schnaufte überrascht durch die Nase. »Merkwürdig, dass Ihr das erwähnt. Das hab ich Jörg nämlich auch gefragt – denn mit diesem Testament wäre er für Gundis vielleicht endlich ein erstrebenswerter Kandidat für Veronikas Hand. Gesetzt den Fall, sie ist bereit, Martin den Schatz, den er bereits halb in der Tasche hat, im letzten Moment wieder vor der Nase wegzunehmen.«

      Er seufzte.

      »Aber leider gibt es kein Schriftstück – jedenfalls keines, von dem Jörg weiß. Der Junge geht nach Treu und Glauben und verlässt sich darauf, dass der Meister sein Wort hält, wenn es so weit ist.«

      »Damit wird Eure Frau sich nicht zufriedengeben«, sagte Fidelitas. Es war eine Feststellung, keine Frage.

      »Wahrscheinlich nicht.« Heinrich Stöcklin seufzte zum zweiten Mal. Sein Blick war traurig und ein wenig beschämt. »Ihr müsst mich für einen feigen Tropf halten, Schwester – dass ich Gundis die Herrschaft überlasse, anstatt sie in ihre Schranken zu weisen und das Zepter wieder selbst in die Hand zu nehmen.«

      »Das ist nicht mehr Eure Aufgabe«, entgegnete Fidelitas sanft. »Es ist die Eures Sohnes. Und jetzt, da seine Frau sich von ihrem Leiden erholt, hat er vielleicht endlich die Kraft dazu.«

      Sie streckte die Hand aus und legte sie leicht auf seinen Arm.

      »Wisst Ihr noch? Ihr habt mir selbst gesagt, ich hätte das Gleichgewicht in diesem Haus verändert«, erinnerte sie ihn. »Euer krankes Herz mag Euch daran hindern, allein in die Schlacht zu ziehen. Aber es dauert nicht mehr lange, und Ihr werdet starke Verbündete haben. Herr Vinzenz und Frau Regula können gemeinsam mit Euch verhindern, dass Frau Gundis ihren Kopf durchsetzt und Martin Danner Veronika zur Frau nimmt. Alles, was Ihr braucht, ist ein wenig mehr Zeit.«

      Heinrich Stöcklin straffte sich; in seinen Augen glomm plötzlich ein kriegerischer Funke.

      »Dann«, meinte er, »muss ich wohl jetzt meine Lenden für die Schlacht gürten, nicht wahr?« Er lachte leise. »Ich muss sagen, Ihr macht mir Mut. Ich werde Gundis erst einmal bitten, die Hochzeit noch ein wenig weiter hinauszuschieben. Schließlich sollte Regula erst vollständig genesen, bevor sie ihre Tochter ziehen lässt. Und bis dahin lässt Jörgs Meister sich ja vielleicht dazu bringen, ein Testament zu Jörgs Gunsten aufzusetzen. Damit wir etwas in der Hand haben.«

      Fidelitas wies mit einem Lächeln auf das Tablett mit der kleinen, zugedeckten Schüssel, das sie zu ihm heraufgebracht hatte.

      »Ich wünsche Euch, dass Ihr Erfolg habt«, sagte sie. »Ihr solltet Euch für das Gespräch mit Eurer Frau stärken … Und außerdem wäre Irmhild bestimmt sehr enttäuscht, wenn ihr schönes Buttergemüse kalt wird. Sie hat extra für Euch Speckwürfel mit Wacholder hineingeschnitten.«

      »Wirklich?« Heinrich Stöcklin hob den Deckel von der Schüssel und schnupperte genießerisch. »Dann will ich es mir schmecken lassen – und Ihr dürft Irmhild in meinem Namen herzlich danken. Sehen wir uns heute noch einmal?«

      »Sehr gern – nach dem Abendessen, wenn Frau Regula sich schlafen gelegt hat.« Fidelitas erhob sich. »Aber vorher werde ich tun, was Ihr mir schon die ganze Zeit ans Herz legt, seit ich hier bin: Ich besuche endlich Euer berühmtes Münster und spreche darin ein Gebet.«

      »Für mich?« Der alte Herr schmunzelte.

      »Für Euch. Für alle, die in diesem Haus leben«, erwiderte Fidelitas ernst. »Und für mich ebenfalls.«

      Es war tatsächlich das erste Mal, dass Fidelitas länger als für wenige Minuten das Haus verließ. Sie erkundete die fremde Stadt mit dem Eifer eines neugierigen Kindes, dem endlich gestattet wurde, die ersten selbstständigen Schritte ohne Begleitung zu tun, und sie fand sie gleichzeitig ehrfurchtgebietend, furchteinflößend und wunderschön.

      Sie brauchte kaum zehn Minuten, um den Platz zu erreichen, über dem das Münster mitsamt seinem schwindelerregend hohen, grazilen Turm seinen Schatten warf. Bei einem ihrer Besuche in seiner Studierstube hatte Heinrich Stöcklin ihr augenzwinkernd von den vielen Wasserspeiern erzählt, die das Kirchendach säumten; speziell von dem »Hinternentblößer«, der den Gläubigen dreist seine nackte Kehrseite entgegenreckte. Allerdings war ihr im Moment nicht nach derben Scherzen zumute. Zu schwer wog die Verantwortung, die sie auf ihren Schultern lasten fühlte, seit sie Heinrich ermutigt hatte, den Kampf gegen Martin Danner und obendrein gegen seine eigene Frau aufzunehmen.

      Bevor sie das Münster betrat, ging sie langsam an den Gebäuden entlang, die den Platz säumten. Sie betrachtete staunend die prächtige rote Fassade des Kaufhauses. Die Statuen der österreichischen Fürsten unter ihren goldgezierten Baldachinen sprachen von Hochmut, von ungezügelter Macht und dem Verlangen, eine unauslöschliche Spur im Strom der Geschichte zu hinterlassen. Eine ganze Weile blieb sie unter der gekrönten Statue von Karl dem Fünften stehen, der in einer Hand den Reichsapfel und in der anderen das erhobene Schwert hielt … Und plötzlich kam das Echo einer Stimme zu ihr zurück, die sie zuletzt vor fünf Jahren gehört hatte. Die meisten hohen Herren verkaufen ihren Glauben und den ihrer Untertanen an den, der ihnen am meisten bietet, sei er nun Katholik oder Protestant.

      Diese Aussage war so wahrhaftig wie traurig, und trotzdem stellte Fidelitas fest, dass sie lächelte. Sie sah das Gesicht des Mannes vor sich, den sie kennengelernt hatte, als sie damals versucht hatte, das Rätsel um den Tod eines jungen Adeligen zu lösen, der auf heimtückische Weise an Gift gestorben war. Ein spanischer Landsknecht, ohne Skrupel und gefährlich wie eine scharf geschliffene Messerklinge. Und doch hatte er ihr das Leben gerettet.

      Ich segne dich, Juan Alvarez de Santa Cruz y Fuego, dachte sie. Möge dein Mut niemals sinken, möge kein Schwert dich fällen und Gott dir gnädig sein, solange du lebst. Falls du noch lebst, was ich trotz deiner Sünden inständig hoffe.

      Sie überquerte den Platz und näherte sich der kleinen Andreaskapelle, deren Keller lange Jahre als Beinhaus gedient hatte. Jedenfalls zu der Zeit, als rund um das Münster noch Freiburger Bürger regelmäßig ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten; dieselbe Zeit, aus der auch die Mauer des ehemaligen Friedhofs rings um das Münster stammte. Heinrich Stöcklin hatte ihr davon erzählt, und von dem Befehl des österreichischen Kaisers Maximilian, der schon vor knapp vierzig Jahren angeordnet hatte, den Friedhof zu verlegen. Aber noch immer standen vor der Kapelle ein steinernes Kreuz und eine Säule mit einem ewigen Licht.

      Das hölzerne Tor zum nördlichen Seitenschiff des Münsters knarrte leise, als Fidelitas es aufstieß, und dann nahm der stille, weihrauchduftende Dämmer der riesigen Kirche sie auf. Ihre Sandalen machten kaum ein Geräusch auf den Steinfliesen, während sie auf den Hochaltar zuging. Sie wusste, dass das Münster Maria geweiht war, und sie hielt den Blick fest auf das Bildnis gerichtet, das den Altar dominierte und selbst im Halbdunkel unter dem hohen Gewölbe noch strahlte, als würde es jeden Funken Licht, der durch die bunten Glasfenster fiel, einfangen und bündeln. Maria als Himmelskönigin – die Krone über dem lockigen, leicht zur Seite geneigten Kopf, das Gesicht lieblich und sanft, das Gewand golden und der Mantel tiefblau, schimmernd wie kostbarer Samt.