»Ja. Nur ein Dieb, Gauner und Bastard würde hier hereinkommen, aber Besucher? Nein!« Der Sicherheitsmitarbeiter des Museums wedelte mit der Hand, was eher wie ein Winken wirkte. »Schulkinder werden ab und zu auf Exkursion hierhergeschleppt, und das war’s … Das hab ich ja schon immer gesagt, wir interessieren uns für Museen nur im Ausland. Wir brauchen nur irgendwohin zu reisen, und schon landen wir schnurstracks in einem Museum. Aber hier ist das Museum der letzte Ort, wo wir hingehen möchten. Was will man da? Wir sind zwar stolz auf unsere Sehenswürdigkeiten, besichtigen aber trotzdem lieber die von anderen. Vielleicht, weil wir denken, sie sind ja gleich um die Ecke, in zwei Schritten Entfernung, wir können ja hingehen, wann wir wollen. Und der Louvre erscheint uns irgendwie weit weg.«
»Oder weil hier keine ›Mona Lisa‹ und keine ›Venus von Milo‹ ausgestellt sind«, brachte Matthäus seine eigene Version ins Spiel und schämte sich ein bisschen, dass er aus der großen Sammlung des Louvre nur diese beiden Exponate kannte.
»Pah, ›Mona Lisa‹, wenn die überhaupt ein Original ist«, der Sicherheitsdienstmitarbeiter ging, warum auch immer, zum Flüstern über, »im Internet stand, dass das, was im Louvre ausgestellt ist, in Wirklichkeit nicht das ist, was dieser … äh … Typ zu seiner Zeit gemalt hat. Das Original ist irgendwo im Depot versteckt. Und das, was die Leute sich angucken, weißt du, was das ist? So was wie die Schokoladenattrappen, die früher in den Schaufenstern standen und die wir für echt gehalten haben! Und selbst wenn sie echt wäre, ich hasse trotzdem diese mit tausenderlei Krimskrams vollgestopften Museen. Um echte Kunst zu zeigen, braucht man nur ein oder zwei Gemälde, denn nach zehn Minuten sinnlosen Rumlaufens ist einem piepegal, ob das Gemälde in dem Saal da von Pablo Picasso oder von Pablo Escobar ist.«
»Was das verschwundene Exponat angeht …« Matthäus wollte endlich seine Ermittlungskunst zeigen.
»Ach ja! Ich liebe ja die Regel, dass man ein Foto machen darf. Ich bin ja nicht in vielen Museen im Ausland gewesen, aber über die, in denen ich war, kann ich mir ein Urteil erlauben … In manchen ist Fotografieren ja verboten. Als ob das kein anderer sehen soll, oder was weiß ich, warum, aber trotzdem: Ein Foto zu machen, schaffst du überall … Man knipst es. Es kommt einer angestürmt. Macht mit dem Finger du-du-du. Man antwortet: ›Ixkjuhsmii, das hab ich nicht gewusst, ich tu’s nie wieder, Mister‹, aber immerhin, es bleibt einem dieses eine Foto … Eine Erinnerungsaufnahme aus dem gesamten Museum. Deswegen hängt alles von der richtigen Auswahl dieses einen Fotos ab.«
»Was ist also verloren gegangen?« Matthäus verlor gleichzeitig Zeit und die Geduld.
»Die Museumskultur ist verloren gegangen, der Respekt vor sich selbst ist verloren gegangen … Hm, was noch?«
»Ich hab das Exponat gemei…«
»Ich hab auch das Exponat gemeint«, unterbrach ihn der Sicherheitsdienstmitarbeiter, »früher zum Beispiel …«
Der Fall stellte sich also folgendermaßen dar: Im Seidenmuseum, einem zweistöckigen, prunkvollen Gebäude aus roten Ziegelsteinen an einem ruhigen und grünen Park, war das Hauptexponat – ein Seidenpantoffel der legendären Königin Tamar – unbemerkt verschwunden. Keinerlei Spuren. Keinerlei verdächtige Geräusche. Keinerlei irgendwas. Tür und Fenster waren von innen verschlossen gewesen. Weder die Polizei konnte den Fall lösen noch – was noch viel verwunderlicher ist – die Journalisten. Der Sicherheitsdienstmitarbeiter jedoch, der bestimmt viel leichter den Dieb im Zaum hätte halten können als seine Zunge, schwieg zu diesem Vorfall verdächtig. Es war zwar nicht Matthäus’ Traumkriminalfall (das wäre eher der Mord an diesem Sicherheitsdienstmitarbeiter), aber zumindest könnte er sich so endlich einen seidenen Ruhmesmantel umhängen. Genau deshalb war er, sobald er im Fernsehen von dem Diebstahl gehört hatte, hier aufgetaucht.
»Der Fall ist über alle Maßen kompliziert, Watson!«, seufzte Matthäus und grübelte.
Nun, in Wirklichkeit war der Fall völlig simpel und wurde nur durch die Anwendung der induktiven Methode verkompliziert. Erstens konnte Matthäus Induktion nicht richtig von Deduktion unterscheiden und war ständig auf der Hut, nicht die Methode des eingebildeten Londoners anzuwenden. Zweitens war die Untersuchung des Falles mittels Induktion fast dasselbe wie Kaffee in den Zucker zu schütten. Na gut, vielleicht nicht dasselbe, aber wie gesagt, Matthäus konnte Induktion nicht richtig von Deduktion unterscheiden …
»Nun, wenn ich nicht mit Induktion angefangen hätte, wäre ich leicht zu dem Schluss gekommen, dass sich der Sicherheitsdienstmitarbeiter eher um die lauen Besucherzahlen des Museums sorgt als um das Verschwinden von Königin Tamars Pantoffel. Außerdem wird Königin Tamar in der Geschichte viel öfter barfuß erwähnt als mit Pantoffeln.« Matthäus machte im Geiste eine Pause, die zur Schärfung seines Geistes beitragen sollte. »In Wirklichkeit …«
»… existiert keinerlei Pantoffel, und es ist einfach ein Marketingschachzug des Museums«, vollendete ein Mann, der aus dem Nichts im Raum aufgetaucht war, Matthäus’ Satz. Der Unbekannte hatte einen kurzen Bart und kurzes Haar, was man von dem Mann auf seinem Shirt wirklich nicht behaupten konnte.
»Was existiert nicht?« Der Sicherheitsdienstmitarbeiter schien beleidigt. »Seit Jahren steh ich hier, um den zu bewachen!«
»Sie bewachen ihn, aber die Hauptsache ist doch, quis custodiet ipsos custodes?15«, antwortete der Unbekannte auf Latein, um eine Wortwiederholung zu vermeiden, und wandte sich, bevor der Sicherheitsdienstmitarbeiter, weil er nicht die Superkraft besaß, die Fußnoten dieses Buches zu lesen, in Verunsicherung verfiel, an Matthäus: »Es ist Zeit, sich ernsthafteren Dingen zuzuwenden.«
»Ich halte nur Morde für ernsthafte Dinge!«
»Genau der Meinung bin ich auch. Die Sache ist nur die: Es ist noch kein Mord passiert …«
Matthäus wusste nicht, wer zum Teufel dieser Mann war, er wusste nicht, wie er einen noch nicht geschehenen Mord untersuchen sollte, er wusste nicht, ob er den laufenden Fall »Seidenstraße« nennen sollte oder »Seidensackgasse«, er kannte nicht Sokrates’ berühmtestes Zitat, die Identität Jon Snows und die erforderlichen Umweltbedingungen für die Vermehrung von Chlamydomonas, er wusste weder, was Chlamydomonas sind, noch, warum er einem Menschen vertraute, über den er nichts wusste, aber er willigte trotzdem bedingungslos ein, den Fall zu untersuchen, denn trotz des großen Unwissens wusste er zumindest eines: »Lehne nie etwas ab, wenn deine Zustimmung nichts kaputtmacht!«
Spoiler #3: Virginia ist Sylvias Geliebte
»Warum ist es oft so, dass wir die lieben, die uns nicht einmal mögen, und warum lieben uns die, die wir nicht einmal mögen?«, grübelte Lea und legte »Bestseller«16 in ihren Koffer. Und da ihr niemand anderes auf ihre Gedanken antwortete, fuhr sie innerlich fort: »Wahrscheinlich deshalb, weil es die perfekte Welt nur im Märchen gibt und sich das Leben irgendwie vom Märchen unterscheiden muss. Das ist sein wahrer Sinn – immerwährender Kampf, denn ein märchenhaftes Leben, wie wundervoll auch immer, ist am Ende trotzdem eintönig und langweilig … Ja, es ist dumm, nur dafür zu kämpfen, dass dein ganzes restliches Leben in einer Floskel wie ›und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage‹ zusammengefasst werden kann.«
Lea selbst hatte nie davon geträumt, Prinzessin zu sein. Mehr noch, für sie war ein Frosch nur ein mäßig sympathischer Vertreter der Familie der schwanzlosen Amphibien, und der einzige Prinz, den sie von ganzem Herzen treffen wollte, lebte leider auf einem völlig anderen Planeten namens B 612. Deshalb hatte Lea auch ein unmärchenhaftes Leben, in dem sie alles in Stichpunkte unterteilte, von denen sie nur vier mochte:
1.Endlose Gedanken: Lea dachte oft, dass Worte in Gedanken viel besser klangen, als wenn sie ausgesprochen wurden. Sie stellte die Worte blitzschnell im Kopf zusammen und konnte so innerhalb einer Stunde ein literarisches Meisterwerk verfassen, vor Millionen Menschen eine hochemotionale Rede halten, Fachdiskussionen über die praktische Anwendung von Sinus- und Kosinussatz im alltäglichen Leben gewinnen, beim Flirt einen