An der dritten Wand hing eine riesige Sense. Diagonal. An zwei Nägeln. Nachdem neue Technologien eingeführt worden waren, benutzte der Tod sie seltener. Meistens nur als Selfie-Stick, und das auch nur, weil er ja ständig mit Sense abgebildet wurde und die visuellen Gewohnheiten der Menschen hartnäckig waren. Dabei war er ja kein kleiner Junge mehr und fand es selbst sterbenslangweilig, auf allen Bildern mit Sense herumzulaufen. Sogar sein Cursor hatte die Form einer Sense. Auf einem speziellen Gerät der Firma Atropos2, auf dem in einem riesigen Überordner, benannt »Menschheit«, zahllose (siebzigtausendvierhundertzwanzig!) Unterordner (zum Beispiel »Krieg«, »Katastrophe«, »Krankheit«, »Unglücksfall«, »Alter«, »Terrorismus«, »Kreuzigung«, »Darwin Award«3) und sieben Milliarden achthundert Millionen fünfhunderttausenddreihundertzwanzig (was für unbezahlbar zahllose Zahlen!!!) Dateien gespeichert waren. Die Arbeit des Todes bestand darin, die stetig dazukommenden Dateien in die Unterordner zu verteilen und in regelmäßigen Abständen Ordnung in den Ordnern zu schaffen.
Über dem Atropos gab es Regale, die größtenteils mit Büchern von Terry Pratchett gefüllt waren. Nach Meinung des Todes hatte Pratchett so lange unvergessliche Bücher geschrieben, bis er ihn in seinen Unterordner »Alzheimer« hatte verschieben müssen. Auch die anderen Romane waren nicht weniger meisterhaft verfasst. In den Regalen standen Bücher von Mann, Zusak, Saramago, Christie … Kurzum, alle, die unsterblich hatten werden wollen, indem sie über den Tod schrieben und damit zur Belebung seiner narzisstischen Bibliothek beigetragen hatten.
… Der Tod rieb sich mit den Daumen- und Zeigefingerknochen die auf die Wand starrenden Augenhöhlen. Seine Schlaflosigkeit war ausschließlich durch psychologische Faktoren bedingt. Er hatte Angst, vor Müdigkeit so fest einzuschlafen, dass der Wecker nichts würde ausrichten können. »Nur noch heute, und dann werde ich auf jeden Fall zum Psychologen gehen«, dachte er.
Der letzte Psychologe, vor dessen Tür er gestanden hatte, war Freud gewesen. Im Jahre neunzehnhundertneununddreißig. Aber das war eher ein Arbeitsbesuch gewesen, denn die Datei »Sigmund Freud – 1856« hatte schon lange im Unterordner »Schwere Krankheit« gelegen und der Psychologe damals selbst auf der Couch.
»Egal. Er konnte besser über Schlaf reden als über Schlaflosigkeit«, redete der Tod seinem Schädel beruhigend zu und erinnerte sich, dass seine Schlaflosigkeit sehr lange vor Freud begonnen hatte. Genauer gesagt, in jenen Situationen, in denen er besonders wach hätte sein müssen. Er war jedoch eingeschlafen – und die Weltgeschichte war radikal anders verlaufen …
Alois hätte nachts beim Sex sterben müssen. Unbedingt. Auf jeden (Todes-)Fall. Sonst würde das Experiment anders verlaufen, und der Tod müsste seinen eigenen strengen Schöpfern Rede und Antwort stehen.
An jenem Abend hatte Alois nicht dem Tod, sondern den Getränken den Kampf angesagt. Er war so betrunken, dass ihm zunächst ein Finger wie zwei erschien, zwei wie vier, vier wie acht; diese scheinbaren anatomischen Fehlbildungen bewirkten, dass er sich gezwungen fühlte, die Augen zu schließen und durch leichtes Kopfschütteln wieder in die Realität zurückzukehren. Aus dem gleichen Grund erschienen ihm, nachdem er unter sechzehn Türen die richtige ausgemacht hatte, erst eine Klara, dann zwei Klaras, dann vier, dann acht, sodass er die Augen schloss, den Kopf leicht schüttelte und, bevor sich die eine Klara wieder hinterrücks vermehrte, diese zwecks Vermehrung ins Schlafzimmer zog.
Der Sex war nicht so, wie er in Filmromanzen dargestellt wird. Eher so wie in Dokumentarfilmen. Genauer gesagt, wie denen auf Animal Planet. Alois keuchte wie ein Lumière’scher Zug, der in den Bahnhof einfährt, und Klara war stumm wie das Lumière’sche Kino.
Genau in dem Moment hätte die sorgfältig geplante Herzattacke kommen müssen.
Aber der Tod hatte verschlafen.
Glück für Alois. Pech für die Menschheit.
Nach ein paar Minuten war Alois fertig und rollte sich mit einem kleinen Seufzer von Klara herunter aufs Bett.
Auf den ersten Blick hätte diese Nacht, wie tausend andere Nächte auch, unspektakulär sein sollen, aber dieses Mal lief alles anders – der kleine Adolf besiegte spielend seine Konkurrenten und spurtete blitzschnell Richtung Eierstöcke davon …
Die unangenehme Erinnerung daran raubte ihm nicht nur den Schlaf, sondern auch den Gedanken an den Schlaf. Er stand auf, zog den Umhang aus und betrachtete sich im Spiegel. »Ein bisschen mehr auf den Rippen könnte mir wirklich nicht schaden. Ich bin ja nur noch ein Knochengestell«, dachte er, hängte den Umhang über den elektrischen Stuhl und grübelte über den langersehnten Urlaub nach. Den hätte er schon viel früher verdient gehabt. Viele Millionen Jahre waren vergangen, nicht einen Tag hatte er pausiert. »Was hat ER schon auszustehen! ER kann sich wenigstens sonntags ausruhen«, murmelte er und bemerkte jemanden im Dunkeln. Halluzinationen hatten ihm gerade noch gefehlt! Er rieb sich mit den Fingerknochen die Augenhöhlen und schaute genauer hin. Es war niemand zu sehen.
Er beruhigte sich, legte sich hin und dachte weiter nach. Wie die Zeit verging. Er erinnerte sich an Abel, als wäre es im vorigen Jahrhundert gewesen. Damals war er nur als einfacher Assistent beschäftigt und hatte maßlose Anpassungsschwierigkeiten bei der Arbeit gehabt. Wie lange er allein schon Methusalem auf den Fersen war … Und dann dieser furchtbare Regen. Vierzig Tage lang hatte er ohne Pause gearbeitet, doch dann war wegen eines versoffenen Tischlers die ganze Arbeit ins Wasser gefallen. Beim Stichwort Wasser kam ihm die Titanic in den Sinn. Furchtbar kalt war es in jener Nacht gewesen – es war einem direkt in die Knochen gefahren … Brrr … Er erschauerte. Allerdings konnte er sich ebenso an Hitze erinnern. Einmal war es in London so teuflisch heiß gewesen, dass alles verbrannte. Als er an Feuer dachte, schwebte ihm komischerweise auch Archimedes vor. Ein heißes Bad … zusammen mit Marat … Das warme Wasser umschmeichelt angenehm den Körper. Vom Schädel- bis zu den Fußknochen durchlief ihn ein wohliger Schauer. Er fühlte sich erleichtert.
»Ich muss nicht einschlafen!« Dieser Gedanke gelang ihm noch, und dann war er eingeschlafen.
Es schlug vier Uhr.
1»Also, Like, Haha and Wow« und »Five More Months, Please« – stehen für die Sequels der Hits »All You Need Is Love« und »Wake Me Up When September Ends«.
2Atropos – Schicksalsgöttin in der griechischen Mythologie, deren Aufgabe es war, mittels einer Schere den Lebensfaden der Menschen durchzuschneiden.
3Darwin Award – wird für den blödesten Tod verliehen. Der Autor des vorliegenden Buches hätte eine ausgezeichnete Chance, den Darwin Award zu erhalten, falls im Moment des Schreibens der Darwin-Award-Fußnote der Akku des Laptops auf sieben Prozent sinken und er beim Grübeln über ein gutes Beispiel statt des Ladesteckers ein paar Stricknadeln in die Steckdose stecken würde.
Noch ein Prolog
Als Memento Mori eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er heraus, dass er eine Romanfigur war und ihm über sich selbst nur drei Dinge einfielen:
1.dass er den komischen Namen »Memento Mori« trug;
2.dass er eine Romanfigur war;
3.dass ihm über sich selbst nur drei Dinge einfielen.
Dabei ist das Dasein als Romanfigur durchaus kompliziert. Besonders dann, wenn man aus dem Nichts in einem Prolog auftaucht. Man kennt weder die eigene Vergangenheit noch die