Doch Memento Mori wird nicht ans Fenster gehen, denn er findet Naturbeschreibungen unnatürlich. Er glaubt, ein lebender Baum sei viel bedeutsamer als viele Seiten Waldbeschreibung, für die ein Baum gefällt wurde. Jedoch weiß Memento Mori selbst noch nicht einmal, was er weiß, bis auf das, was bis jetzt über ihn geschrieben wurde, und zukünftig dann noch das, was über ihn geschrieben werden wird.
Fakt ist, dass im Gegensatz zu ihm die meisten Romanfiguren nicht darüber nachgrübeln können, dass sie Romanfiguren sind, und jede beliebige ihrer Entscheidungen – und sei es jene, ob sie zum Abendbrot zuerst Huhn oder Ei essen sollten – im Kopf eines völlig fremden Menschen ausgebrütet wird. Solche Naivität ist überhaupt nicht verwunderlich. Stellt euch vor, eines Tages würde ein Fremder bei euch auftauchen und steif und fest behaupten, dass die Erde in Wirklichkeit ein in einem Buch eines auf Kyliejenn4 lebenden Autors vorkommender ausgedachter Planet sei und auch ihr selbst existieret real gar nicht – würdet ihr das glauben? Natürlich nicht.
Memento Mori entdeckte erst, dass er eine Romanfigur war, und dann glaubte er es. In einer Welt, in der sich ein Mensch im Schlaf in ein großes Insekt verwandeln und eine schwarze Katze auf zwei Beinen durch irgendeinen Trick an einer Straßenbahn hängend reisen kann, ist nichts unmöglich. »Angenommen«, dachte Memento Mori, »die Gedanken der Romanfiguren werden stets vom Autor gesteuert, dann ist es vielleicht ebenso die Entscheidung des Autors, mir eine Illusion des selbstständigen Handelns zu verschaffen …« Aber wozu über derartige Nichtigkeiten jammern, wenn man als Romanfigur durch Anpassung an das eigene Dasein eine unermessliche literarische Macht erlangen kann: Man kann andere Romanfiguren dazu anstacheln, sich gegen den Schriftsteller aufzulehnen, die Worte des Autors verhohnepipeln (»dass jemand dieses Verb nach dem Jura-Zeitalter benutzen würde, hätte ich nicht gedacht«) oder einfach in den Büchern herumreisen.
Also, wer glaubt noch immer, dass das alles nur mit dem Segen des Autors passiert? Keiner! Nicht mal Memento Mori glaubt das. Der Autor ist tot. Derjenige, der das gesagt hat, ist ebenfalls tot. Es lebe die neue Romanfigur!
Die drei Sternchen sind eine Art Ersatz für die Formulierung »Die Zeit verging«. Das heißt, verborgen hinter jener unvollständigen Zeile, die den Anfang dieses Absatzes vom Ende des vorhergehenden Absatzes trennt, war in Memento Moris Leben nichts Ungewöhnliches passiert. Hauptsächlich stopfte er sich mit Essen voll und schlief. Und da niemand mehr Geschichten über fettgefressene, schläfrige Romanfiguren lesen möchte, entschloss sich Memento Mori, »Wiegen« und »Liegen« durch gewichtigere Ziele zu ersetzen. Er besaß nämlich nichts Geringeres als eine ungewöhnliche Superkraft. Eine Superkraft nicht zu benutzen, ist, wie das eigene WLAN-Passwort zu vergessen. Erst recht in einer Welt, in der böse Autoren ihre Autorkratie ausleben und die eigenen Romanfiguren mit einem einzigen Federstrich niedermetzeln. In einem dermaßen ungerechten Land würde sicher ein Superheld gebraucht – Supermento! Mementomori-Man!! Termimentomori!!! …
Na gut, soll er meinetwegen weiterhin Memento Mori heißen.
Einige Jahre (was etwas viel erscheint, aber, wie ihr seht, in elf Buchstaben passen kann) hatte er sich mit Literaturen aller Art vertraut gemacht. Beginnend mit »Vom Ende einer Geschichte« bis zur »Unendlichen Geschichte« am Ende. Dann machte er sich ans Reisen in Büchern und an die Rettung der Protagonisten. Mal wollte er Romeo und Julia davon überzeugen, dass man nicht aus allem eine Tragödie machen müsse und sie später schmunzelnd an diese Episode zurückdenken würden, mal versuchte er, Ostap Bender Erste Hilfe zu leisten, während Worobjaninow im Fluss ertrank (»Bolivar kann nicht zwei tragen«5), mal besuchte er – mit dem eigentlich erst später erfundenen Zauber-Penizillin beladen – heimlich ein Sanatorium in Davos. Manchmal gelang es ihm, einen Sieg über die Autoren zu feiern, manchmal hinderte ihn der große Umfang eines Buches daran, und der Zug der Hauptfigur war schon abgefahren, bevor er die Seite mit der Tragödie erreicht hatte. Einmal hatte er sein Glück mit »Krieg und Frieden« versucht, aber bald Schild und Schwert sinken lassen. Er konnte weder die Selbstmord-Schwestern retten noch ***Spoiler Alert***6. Was sollte er machen? Er selbst war allein, die anderen Romanfiguren waren Millionen. Alle konnte er nicht erlösen, und das war auch nicht nötig. Außerdem hatte er Moriarty höchstpersönlich den Reichenbachfall hinuntergestoßen und konnte das bestürzte Gesicht von Holmes nicht vergessen, dessen maschinenartig arbeitendes Hirn sich absolut nicht erklären konnte, wo dieser Deus ex Machina herkam.
Obwohl, na komm, seien wir ehrlich – als wahnsinnig interessant hat sich das Reisen in den Büchern nicht herausgestellt. Es war zwar meilenweit besser als der ewige Kreislauf aus Essen und Schlafen, aber ein von dermaßen vielen literarischen Anspielungen genervter Leser würde das Buch nach einigen Absätzen kaltblütig zuschlagen, sodass er Memento Mori mit Vergnügen zwischen den Seiten zerquetschte. Um den Leser davon abzuhalten, musste also eine Story her, und genau da machte Memento Mori jene Entdeckung, mit der er dem Damoklesschwert einfach ausweichen würde – während er selbst in anderen Romanen beschäftigt gewesen war, war in seinem eigenen jemandes Ermordung geplant worden! Und zwar für vier Uhr und dreiunddreißig Minuten. Im Prolog war alles detailliert beschrieben, außer einer wichtigen Sache:
Wer sollte ermordet werden?
4Kyliejenn – in einem Buch eines auf der Erde lebenden Autors vorkommender ausgedachter Planet.
5Bolivar kann nicht zwei tragen – Der Hauptzweck der Fußnote ist die indirekte Demonstration der Kenntnis einer Erzählung von O. Henry durch den Autor. Deshalb solltet ihr dieser keine Aufmerksamkeit schenken, ungeachtet dessen, dass der Hinweis, ihr keine Aufmerksamkeit zu schenken, erst im zweiten Satz gegeben wird.
6*** Spoiler Alert*** – Randle McMurphy, dessen Rettung Memento Mori ebenfalls nicht gelang. Obwohl er es im Gegensatz zu Kesey zumindest versucht hatte.
Entschuldigung, auf Sie wartet der Tod!
Spoiler #1: Ernest Hemingway ist ein Mörder
»Schließen Sie die Augen, und stellen Sie sich vor, Ihnen würde die Superkraft verliehen, einen Menschen aus der Weltgeschichte verschwinden lassen zu können. Wer wäre Ihrer Meinung nach derjenige, dessen Nichtexistenz die Geschichte am radikalsten verändern würde?« Professor Arno holte die Brille aus der Hemdtasche und legte sie, statt sie sich auf die Nase zu setzen, auf den Tisch. »Normalerweise würde Ihnen als Erster Adolf Hitler in den Sinn kommen … Wenn Sie andere Kandidaten haben, können wir darüber durchaus diskutieren.«
Es gab andere Kandidaten. Den Wunsch, sich zu Wort zu melden, allerdings nicht. Daraus schloss Professor Arno, die Mehrheit der Hörerschaft teile offenbar seine Ansicht, und fuhr etwas forscher mit der Vorlesung fort: »Interessant wäre zu ergründen, warum Hitler zu einer Marke in der Weltgeschichte geworden ist. Doch sicher nicht wegen seines markanten Schnurrbarts? Oder wegen jener berüchtigten Geste, mit der man heutzutage nur noch Taxis anhält? Vielleicht ist das Hakenkreuz das perfekte Logo? Ist nur sein Charisma an allem schuld, welches erst einen Wind des Wandels in Deutschland aufkommen und dann einen Sturm von Kämpfen über Europa fegen ließ …«
»Vielleicht, weil er viele Menschen umgebracht hat, Herr Professor?«, schlug ein Alleswisser aus den Tiefen des Saales vor.
»Fakt ist, dass es nicht so ist. Wenn Ruhm an