»Ich habe meine kleine Claudine sehr gern gehabt. Lieber, als alles andere auf der Welt«, erzählte Florence mit leiser Stimme.
»Und Ihren Mann?«, erkundigte sich Dr. Amberg wie unter einem geheimen Zwang.
Florence sah auf den steinigen Weg. Dany und Sanny waren inzwischen mit den anderen Kindern vorausgelaufen und bereits auf der Wiese am See. Eifrig pflückten sie dort Gänseblümchen. Selbst Dany bückte sich ein bisschen unbeholfen nach den weißen Blüten.
»Er war viel unterwegs, hatte wenig Zeit für mich und das Kind«, erinnerte sich die junge Französin. »Ich habe ihn aus Liebe geheiratet, aber dann habe ich gemerkt, dass er nur jemanden gesucht hat, der an seiner Seite repräsentierte. Das war nicht schön für mich!«
Sanny kam angelaufen und streckte Florence ihr Blumensträußchen entgegen. »Hab ich für dich gepflückt!«, rief sie mit strahlenden blauen Augen.
Florence ging in die Hocke, um das Geschenk entgegenzunehmen. Ihre bleichen Wangen röteten sich vor Freude.
Es war ein wunderhübsches Bild, als die junge Frau und das kleine Mädchen die Köpfe zusammensteckten, um die etwas wirr durcheinandergesteckten Blümlein zu betrachten. Helmut Amberg wurde es bei diesem Anblick ganz warm ums Herz. Der Gedanke an Mutter und Kind drängte sich ihm förmlich auf. Wenn jemand geeignet war, Dany und Sanny die Mutti zu ersetzen, dann war es diese junge Frau, die so zauberhaft lächeln konnte. Plötzlich dachte er auch an Martha Thaler, die darauf drängte, von ihm geheiratet zu werden. Würde sie jemals so liebevoll mit den Kindern sprechen? Es war klar, dass die Kleinen ihr niemals jenes Vertrauen entgegenbringen würden, das sie Florence schenkten. Aber dachte er dann tatsächlich an eine Heirat? War es dafür nicht noch zu früh?
Ich habe mich verliebt, überlegte er erschrocken. Ganz gegen meinen Willen habe ich Gefallen gefunden an einer schönen jungen Frau.
Die Erkenntnis war so überraschend, dass er für einen Augenblick die Augen schloss. Doch Danys helles Stimmchen brachte ihn rasch in die Wirklichkeit zurück.
»Das ist für dich, Vati«, kreischte der Kleine und hielt ihm einige Blumen hin, die er am Kopf abgerissen hatte.
»Danke, mein Kleiner. Ich werde sie zu Hause auf meinen Schreibtisch stellen.« Eigentlich dachte Hellmut gar nicht gern an sein früher so hübsches Heim. Seit er allein dort lebte, wirkte es kalt und ungemütlich. Jetzt erwischte er sich bei dem Gedanken, dass Florence Theger dort leben könnte. Musste es nicht hübsch sein, sie und die Kinder um sich zu haben?
*
Lächelnd stand Florence vor dem Gitterbettchen der Amberg-Geschwister. Sanny hatte die Händchen gefaltet und sprach ein kleines Abendgebet. Doch so rasch sie es sonst auch herunterplapperte, diesmal blieb sie mehrmals stecken. Florence musste nachhelfen.
Dany, der noch zu klein war, um den Sinn der Zeremonie zu begreifen, klatschte fröhlich in die Händchen. Süß sah er aus in seinem bunten Schlafanzug und mit den von der frischen Luft geröteten Bäckchen.
Florence ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie den kleinen Jungen genauso gern hatte wie Sanny. Ursprünglich hatte sie sich mehr zu Sanny hingezogen gefühlt, weil diese dem verlorenen Kind glich. Doch immer häufiger rührte Florence die Hilflosigkeit und Liebesbedürftigkeit des kleinen Jungen.
» … mach mich fromm, dass ich …« Sanny schwieg. Fest presste sie die Lippen aufeinander.
» … dass ich zu dir in den Himmel komm«, ergänzte Florence und machte das Kreuzzeichen.
»Sanny will nicht in den Himmel«, protestierte die Kleine. »Sanny will bei dir bleiben und bei Vati. So wie heute.«
Florence nickte lächelnd. »Das sollt ihr ja.«
»Dany auch«, krähte der Kleine, der mit seinem Schwesterchen stets einer Meinung war.
»Dany auch«, bestätigte Florence lächelnd.
»Warum bleibt Vati nicht hier?« Sanny setzte sich kerzengerade auf.
»Weil er zu Hause viel Arbeit hat.«
»Warum arbeitet er nicht hier?«
»Das geht nicht. Eine Arztpraxis kann man nicht einfach verlegen.«
»Warum?«
»Warum?«, echote Dany.
»Das erkläre ich euch morgen. Es ist spät geworden. Ihr seid müde.«
»Gar nicht müde«, widersprach Sanny. »Wenn Vati nicht hier arbeiten kann, warum gehen wir dann nicht zu ihm?«, erkundigte sie sich und sah Florence dabei herausfordernd an.
Die junge Französin überging die leichte Verlegenheit, die bei diesem Gedanken in ihr aufstieg. Sie hatte die bewundernden Blicke Dr. Ambergs bemerkt, hatte fast erwartet, dass er ihr ein Wiedersehen versprechen würde. Doch er hatte sich nur kühl und höflich von ihr verabschiedet. Hatte sie das nicht ein wenig bedauert? Hatte sie nicht erwartet, dass er ihre Hand etwas länger halten würde, als dies üblich war? Sie hatte es nicht nur erwartet, sie hatte es sich sogar gewünscht. Ja. Dr. Amberg war das gelungen, was Dr. Solten vergeblich versucht hatte: Er hatte ihr imponiert. Es war eine zarte, schüchterne Zuneigung, die da keimte. Doch es konnte durchaus mehr daraus werden. Und wenn Florence die Kinder ansah, war sie sich dessen sogar sicher. Seine Kinder!
»Vielleicht tun wir es bald«, überlegte Florence laut.
»Wann?«, wollte Sanny wissen.
»Das weiß ich nicht«, gab die junge Frau mit verblüffender Ehrlichkeit zu.
»Warum?«
Sanny war im schönsten Fragealter. Wenn Florence die Unterhaltung jetzt nicht beendete, würde Sanny noch in einer Stunde mit ihren bohrenden Warums exakte Antworten fordern.
Die junge Kindergärtnerin legte Dany zurück und gab ihm einen zärtlichen Gutenachtkuss auf die Stirn. Dann tröstete sie die kleine Sanny: »Morgen unterhalten wir uns wieder.«
»Das ist noch so lange«, schmollte das Mädchen.
»Überhaupt nicht, Chérie. Bis deine Beinchen, die heute so weit gelaufen sind, ausgeruht haben, wird es schon wieder hell.«
»Bleibst du noch ein bisschen bei uns? Ich bin auch ganz still. Und das Licht kannst du auch ausmachen.«
Florence nickte. Sie wusste, dass Sanny Geborgenheit suchte. Die Kleine hatte viel Schlimmes durchgemacht, damals, als man sie von ihrer Mutti hatte trennen müssen und als man ihr später hatte sagen müssen, dass die Mutter nie mehr zurückkommen würde. Nur langsam konnte das Vertrauen in Sanny wieder wachsen. Doch was würde sein, wenn man sie ein zweites Mal enttäuschte?«
Das durfte nicht geschehen. Aber bedeutete das nicht, dass sie, Florence, Dr. Amberg heiraten müsste, wenn er es wollte? Hatte sie sich noch gestern gegen einen solchen Gedanken empört gewehrt? War plötzlich alles anders?
Florence blieb am Bett ihres Lieblings sitzen und ließ es gern geschehen, dass Sannys Händchen krampfhaft ihre Finger umspannten. Erst als die Kraft nachließ und Florence wusste, dass das Kind eingeschlafen war, erhob sie sich leise.
*
Dr. Amberg nickte mehrmals. »Ja, ich behandle Frau Buchholz seit vier Jahren«, bestätigte er und machte nebenbei eine Eintragung in seine Kartei. Es kam immer wieder vor, dass sich die Familienangehörigen schwerkranker Patienten nach dem Befinden ihrer Verwandten erkundigten. Er gab dann gewöhnlich allgemeingültige Auskünfte und nahm diese Anrufe nicht weiter wichtig. So war es auch jetzt.
»Selbstverständlich weiß ich über die Medikamente, die sie einnimmt, Bescheid.« Er schüttelte den Kopf. Wofür sich die Leute manchmal interessierten!
»Diesmal handelt es sich um eine akute Kreislaufschwäche, nicht wahr?«, erkundigte sich der Anrufer.
»Mit wem rede ich eigentlich?« Dr. Amberg schob das Karteiblatt beiseite und versuchte sich den Anrufer vorzustellen.