Für Werner Breuer brach das Kartenhaus seiner Pläne zusammen, als Ama mit triumphierendem Gesicht den Tierarzt und ihren geliebten Uwe ins Wohnzimmer führte.
»Aber das ist doch …«, stammelte er ungläubig. Ihm war, als träume er, aber da stand sein Sohn vor ihm. Nein, er stand nicht mehr, er stürmte auf Beate zu und warf sich gegen sie.
»Mutti, ach, Mutti, jetzt bin ich endlich bei dir«, rief Uwe. Dann begann er zu weinen, obgleich er sich bis jetzt sehr tapfer gehalten hatte.
*
Henrik von Schoenecker saß auf dem Zaun und baumelte mit den Beinen. »Das ist gerade noch einmal gut gegangen«, sagte er und blinzelte seinem großen Bruder Nick zu. »Stell dir vor, Uwes Vater hätte Erfolg gehabt mit seiner Entführung. Es klingt beinahe wie ein Krimi.«
Nick holte tief Luft. »Bloß ein Glück, dass nichts passiert ist, Kleiner. Jetzt ist Uwe wieder bei uns.«
»Du sollst nicht immer Kleiner zu mir sagen! Vielleicht wird Uwe nicht mehr lange bleiben. Schade, ich habe mich so gut mit ihm verstanden.«
»Es können nun einmal nicht alle Kinder, die zu uns kommen, für immer in Sophienlust bleiben«, erklärte Nick weise. »Mutti hat mir verraten, dass auch etwas Gutes an der aufregenden Geschichte ist.«
»Erzählst du es mir?«, bettelte Henrik.
»Ich glaube, es ist kein Geheimnis, und sooo klein bist du ja wirklich nicht mehr. Das muss man zugeben.«
»Also?« Henriks Augen glitzerten neugierig.
»Uwes Mutti und Gunnis Vater werden heiraten. Uwes Vater hat sich verdrückt nach allem, was er angerichtet hat. Er muss sich mit der Scheidung einverstanden erklären, weil Dr. Rhode als Zeuge aufgetreten ist. Es ist alles herausgekommen. Geschieht ihm recht.«
»Hm, finde ich auch. Ich bin froh, dass Uwes Mutti gleich einen anderen Mann findet, denn eigentlich ist es doch traurig, dass es so schlechte Menschen gibt. Außerdem möchte Uwe bestimmt gern einen netten Vati haben. Und Gunnis Vati ist in Ordnung.«
»Damit hast du recht, Kleiner.«
»Sag nicht immer Kleiner. Es langt mir bald!«, drohte Henrik.
Nick lachte. »Entschuldige! Ich habe ja eben selbst festgestellt, dass du nicht mehr klein bist.«
»Wissen Uwe und Gunni schon, dass sie auf diese Weise Geschwister werden sollen, Nick?«, fragte Henrik, der sich die Sache inzwischen in aller Ruhe überlegt hatte.
»Ja, klar. Sonst hätte unsere Mutti es mir doch bestimmt nicht verraten. Du kennst sie doch. Sie kann den Mund halten.«
»Aber wenn sie Andrea ein bisschen mehr erzählt hätte, wäre es vielleicht gar nicht erst so weit gekommen, dass Herr Breuer seinen Sohn mitnehmen konnte, Nick«, wandte Henrik ein und bewies mit dieser Frage, dass er wirklich kein Baby mehr war.
»Na ja, deswegen darf man trotzdem so private Dinge nicht an die große Glocke hängen. Die Sache hat ihr Happy-End gefunden, und das ist die Hauptsache.«
»Ihr – was?«
»Das heißt, dass die Geschichte gut ausgegangen ist, Henrik.« Diesmal verkniff es sich Nick, seinen Bruder mit ›Kleiner‹ anzureden, obwohl Henrik gerade jetzt nicht genau verstanden hatte, was er gesagt hatte. Aber Nick war eben ein netter großer Bruder.
*
Sie saßen in Schoeneich um den Kamin. Die Sommerferien waren vorüber, die Abende wurden schon kühler. Das flackernde Feuer beleuchtete lächelnde, glückliche Gesichter, denn man hatte bei Champagner und einem kalten Büfett eine kleine Verlobungsfeier abgehalten.
Schon in vier Wochen wollten Beate Breuer und Gert Rhode heiraten. Die Hochzeit sollte auf dem Heidehof stattfinden, und das Brautpaar hatte die Familie von Schoenecker sowie die Familie von Lehn und sämtliche Kinder von Sophienlust dazu eingeladen.
Gert Rhode hatte Beate in der schwierigen vergangenen Zeit getreulich beigestanden. Nun war der gemeinsame Weg in die Zukunft frei, und der Tierarzt sah sich der erstaunlichen Tatsache gegenüber, dass sich alle seine Wünsche erfüllt hatten – ganz im Gegenteil zu der Prophezeiung, die sein Freund Dr. von Lehn seinerzeit ausgesprochen hatte.
Dr. Rhode hielt Beates Hand und betrachtete liebevoll ihr zartes, vom Widerschein der Flammen angestrahltes Profil. Dass er ihr nun helfen durfte, den Heidehof wieder hochzubringen, machte ihn froh.
»Ich habe ein Hochzeitsgeschenk, wenn ihr es annehmen wollt«, sagte Andrea fröhlich.
»Jetzt schon?«, fragte Hans-Joachim und sah seine Frau lächelnd an. »Willst du ihnen nicht noch ein wenig Zeit lassen?«
»Wie wäre es, wenn ich euch meinen kleinen Hengst Billy überlassen würde – als Stammhalter für eine Zucht der kleinsten Pferde der Welt?«, sagte Andrea unbeirrt. »Uwe sorgt bestimmt dafür, dass der Plan verwirklicht wird. Im Tierheim Waldi & Co. komme ich doch nicht dazu, und Billy ist zu wertvoll, um auf die Dauer Junggeselle zu bleiben. Hast du was dagegen, Hans-Joachim?«, wandte sie sich an ihren Mann und zog die Nase kraus.
»Nein, das ist ein großartiger Gedanke. Seid ihr damit einverstanden, Beate und Gert?«
»Selbstverständlich«, rief Dr. Rhode aus. »Es wird mir Spaß machen, die Zucht mit Uwe und Gunnis Hilfe zu betreiben. Ich werde nach Texas schreiben, um zwei oder drei Zuchtstuten zu bekommen, so klein wie nur möglich.«
»Fast könnte ich neidisch werden«, meinte Andrea.
»Reut es dich schon, dass du so ein großzügiges Angebot gemacht hast?«, spöttelte Hans-Joachim gutmütig. »Verschenkt ist verschenkt, auch wenn die Hochzeit erst in vier Wochen sein soll.«
»Ach wo – wir sind es Billy schuldig, dass wir ihm eine gute und würdige Zukunft sichern. Bei Gert und Beate kann ich sicher sein, dass mein Hengst in die besten Hände kommt.«
»Die Kinder werden staunen«, flüsterte Beate überwältigt. »Auf einmal hat sich alles verändert, und das Glück wird auf meinem lieben Heidehof Einzug halten. Daran hatte ich schon nicht mehr geglaubt.«
»Uwe wird den Verlust seiner Ponys Max und Moritz nun leichter verschmerzen«, meinte Dr. Rhode. »Er wollte schon immer euren Billy haben. Ein schöneres Hochzeitsgeschenk hättet ihr euch nicht ausdenken können.«
»Es war meine Idee«, verkündete Andrea lachend.
Denise von Schoenecker schwieg und war dankbar, dass nun auch diese beiden Kinderschicksale einer guten und glücklichen Lösung zugeführt worden waren. Wieder einmal hieß es Abschied zu nehmen, aber sie war glücklich über diesen Abschied.
Dr. Anja Frey, die Hausärztin von Sophienlust, steckte das Stethoskop in die Tasche ihres weißen Kittels. Lächelnd sah sie die kleine Patientin an. »Es wird schon wieder, Heidi. Aber einige Tage musst du im Bett bleiben.«
»Mein Hals tut weh«, jammerte das kleine Mädchen.
Die Ärztin fasste an die Drüsen zu beiden Seiten unterhalb des Kinns. Sie waren stark geschwollen. »Es wird noch ein bisschen schlimmer werden, Spatz. Du musst sehr tapfer sein. Du wirst so dicke Backen bekommen wie ein kleiner Hamster.«
»Mumps?«, fragte Frau Denise von Schoenecker, die am Fußende des Krankenbettes stand, erschrocken. Besorgt schaute sie auf ihren Schützling. Heidi war eines der jüngsten Kinder des Heims. Ein richtiger kleiner Sonnenschein.
»Ich befürchte es. Sie wissen, was das bedeutet, Frau von Schoenecker. Heidi muss streng isoliert werden. Die Krankheit ist sehr ansteckend.«
Heidi, die sich zurückgelegt hatte, sah mit großen Augen zu den Erwachsenen auf. Sie verstand das Wort ›isoliert‹ nicht. Doch was ›ansteckend‹ bedeutete, das wusste