»Aber ich bin …, ich habe schon lange nicht mehr Kinder gepflegt.«
»Es wird Ihnen Spaß machen«, versicherte der Arzt und griff nach der schmalen, durchsichtig schimmernden Hand der jungen Frau. »Sie werden vergessen, werden ins Leben zurückfinden.«
»Ich werde nie vergessen«, widersprach Florence heftig. »Ich habe viel zu sehr geliebt meine Kind und meine Mann.« Wie immer, wenn Florence erregt war, klappte es mit der deutschen Grammatik nicht richtig. »Warum ich bin nicht auch gestorben in die Auto?«
»Das ist Schicksal, Florence. Darüber haben wir schon oft gesprochen. Wir können nichts daran ändern. Wir müssen uns damit abfinden.« Dr. Solten hätte seine junge Patientin zu gern in die Arme genommen, doch das ging natürlich nicht. Einerseits waren sie hier in der Klinik, und andererseits hätte er damit das Vertrauen zerstört, das Florence ihm entgegenbrachte. Er musste warten, musste Geduld haben.
»Ich kann nicht! Und ich will nicht!« Wieder ging der Blick der mädchenhaften jungen Frau in unendliche Ferne. Wieder hörte sie in Gedanken den Schreckensschrei ihres kleinen Töchterchens, das Stöhnen ihres Mannes. Sie hatte nichts für die beiden tun können, da sie bereits in der nächsten Sekunde tot gewesen waren. Wie konnte man von ihr verlangen, sie solle das alles vergessen? Dieses furchtbare Geschehen war ihr ständig gegenwärtig. Doch all ihre Trauer konnte nichts an den Tatsachen ändern.
»Freuen Sie sich nicht, dass Sie aus der Klinik entlassen werden?«
»Nein. Es ist doch so gleichgültig, wo ich bin.« Florence zuckte die schmalen Schultern.
»In Sophienlust wird es Ihnen gefallen. Frau Dr. Frey kann Ihnen mehr darüber erzählen. Ich weiß nur, dass es kein Kinderheim im üblichen Sinne ist, sondern eine echte Heimat für Kinder, die keine Eltern mehr haben oder die aus zerrütteten Familien kommen.«
»Sie haben sich sehr viel Mühe mit mir gegeben, Doktor. Viel zu viel«, murmelte Florence. »Ich möchte Ihnen dafür danken.«
Dr. Solten winkte ab. »Wir werden uns ja hoffentlich noch recht oft sehen. Wenn Sie es erlauben, werde ich Sie in Sophienlust besuchen.«
Wieder zuckte Florence die Schultern. Ihr war das alles so unendlich gleichgültig. Dass sie wieder ein normales Leben führen, wieder normal empfinden sollte, konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen. Ihr war, als habe sich an jenem schrecklichen Unglückstag die ganze Welt verändert.
»Kommen Sie! Ihre Koffer hat man bereits gepackt, alles ist gerichtet.«
Florence erhob sich und ließ sich willenlos die Treppe hinunterführen. Längst hatte sie sich daran gewöhnt, dass andere für sie entschieden und handelten.
Im Besuchszimmer stand Florence der jungen Ärztin gegenüber. Wie durch einen Nebelschleier nahm sie ein freundliches Lächeln wahr, spürte einen herzlichen Händedruck.
Frau Dr. Frey verbarg ihr Erschrecken. Der Zustand der jungen Französin hatte sich seit dem letzten Treffen eher verschlechtert. Was würde Denise von Schoenecker sagen, wenn sie ihr diese teilnahmslose Frau, die eigentlich selbst betreut werden müsste, als Kinderpflegerin brachte? War so etwas überhaupt zumutbar?
»Ich bin überzeugt, dass der Umgang mit Kindern sie völlig verändern wird«, sagte Dr. Solten, der die Gedanken seiner Kollegin zu erraten schien. »Sie wird wieder selbstständiger werden, wird sich wieder für die Umwelt interessieren. Wenn ich darf, rufe ich gleich morgen in Sophienlust an.«
»Selbstverständlich darfst du. Man ist dort sehr gefällig. Frau von Schoenecker hat Verständnis für alle Probleme.« Frau Dr. Frey verabschiedete sich rasch.
Florence stieg willig in den Wagen der Ärztin ein und blieb stumm und regungslos neben ihr sitzen.
»Wissen Sie«, begann Anja Frey das Gespräch, »dass Sophienlust nur das Haus der glücklichen Kinder genannt wird? Doch nicht nur die Kinder, sogar die Erwachsenen fühlen sich dort besonders wohl. Nick, das ist der Sohn Denise von Schoeneckers aus ihrer ersten Ehe, hat das ehemalige Gut von seiner Urgroßmutter geerbt. Die alte Dame verband damit die Verpflichtung, notleidende Kinder dort aufzunehmen. Und Denise, Nicks Mutti, hat diese Verpflichtung wahrhaft meisterlich erfüllt.«
»Und wer finanziert die ganze Sache?«, fragte Florence mehr aus Höflichkeit als aus Anteilnahme.
»Es war ein riesiges Vermögen mit dieser Stiftung verbunden. Oft aber erhält Sophienlust auch großzügige Spenden von Leuten, denen irgendwie geholfen wurde. Jedenfalls kennt man dort keine finanziellen Sorgen. Aber wir sind schon da.«
Eben passierte der Wagen ein großes schmiedeeisernes Tor und fuhr durch einen gepflegten Park.
»Das …, das ist doch ein Schloss, ein richtiges Schloss«, meinte Florence verwirrt. So schön hatte sie sich dieses Sophienlust, von dem ihr Dr. Solten so viel erzählt hatte, nicht vorgestellt.
Zwischen den noch winterlichen Rosenstauden blühten bereits die ersten Tulpen. Weite gepflegte Rasenflächen, umgeben von hohen alten Bäumen, prägten das Bild. Im Wasser des Weihers spiegelte sich die Sonne, an seinem Rand putzten sich einige Wildenten. Friedlich plätscherte der Springbrunnen. Fast war es, als komme man in eine andere Welt. In eine Welt der Ruhe und des Friedens.
»Das ist Sophienlust«, bestätigte Frau Dr. Frey. »Sehen Sie, da drüben spielen ein Teil der Kinder.« Sie deutete auf einen Pavillon, vor dem Kreisspiele gemacht wurden.
Florence bekam große sehnsüchtige Augen. Zum ersten Mal war jener weltentrückte Ausdruck aus ihnen verbannt, der alle schockiert hatte.
Während Frau Dr. Frey ihren Wagen auf den Parkplatz fuhr, den Motor abstellte und die Handbremse anzog, sah Florence unverwandt zu den Kleinen hinüber. »Wer …, wer ist die kleine Mädchen?«, fragte sie erregt und deutete auf ein zierliches kleines Ding im himmelblauen Kleidchen.
»Die Kleine mit den blonden Haaren und den blauen Augen?«
»Ja. Jetzt hüpft sie zu einem kleinen Jungen.« Florence zitterte plötzlich am ganzen Körper.
»Das sind Sanny und ihr kleiner Bruder Dany«, erwiderte die Ärztin arglos. »Eigentlich heißen die beiden Susanne und Daniel, aber so nennt sie niemand. Die armen Kleinen haben vor einigen Monaten ihre Mutti verloren. Sie war unheilbar krank. Für ihren Vater, der Arzt ist, war das sehr schlimm. Ja, und seither leben Sanny und Dany hier.«
»Wie meine kleine Mädchen«, murmelte Florence und war plötzlich leichenblass.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Frau Dr. Frey erschrocken.
»Meine Claudine ist tot. Aber die Kleine hier sieht aus wie sie. Gibt es das denn?« Verzweiflung war in Florences Stimme. Ihre Lippen bebten.
»Kinder sind einander oft ähnlich«, versuchte Anja Frey die Aufregung der jungen Frau abzuschwächen. Florence schien sie jedoch überhaupt nicht zu hören. »Darf ich zu diese kleine Mädchen?«, fragte sie und sah wieder zum Pavillon hinüber.
*
»Ihre Hände sind so zärtlich.« Die rotblonde Patientin reckte und streckte sich. »Ich möchte, dass Sie die Untersuchung länger ausdehnen.«
Verblüfft sah Dr. Amberg von seiner Arbeit auf. Er war ein gewissenhafter Arzt, der seine Pflicht ernst nahm. Keine Sekunde lang hatte er an Zärtlichkeit gedacht. Er hatte den Nacken der Patientin abgetastet, weil sie über Schmerzen in diesem Bereich geklagt hatte.
»Ich werde Ihnen eine Salbe aufschreiben, die Sie zweimal am Tag einmassieren.«
»Warum sind Sie nur immer so sachlich, Doktor?«, flötete die rotblonde Schönheit und wippte gekonnt mit den falschen Augenwimpern. »Heute ist doch Ihre Sprechstundenhilfe nicht da, heute können wir uns endlich privat unterhalten. Ich weiß doch, dass Sie mich seit Langem lieben. Ich spüre es, wenn Sie mich berühren, und ich merke es, wenn Sie mich ansehen.«
Die Patientin, eine etwas rundliche Büroangestellte Ende der dreißig, fasste nach den Händen des Arztes. Sanft entzog er sie ihr und meinte ernst: