»Ein Baby bin ich nicht mehr«, betonte Wanja.
»Das kommt mir auch so vor«, entgegnete Denise vergnügt. »Weißt du was? Du bringst jetzt das Pony zurück zu Justus in den Stall und überlegst es dir dabei noch ein bisschen. Wir sehen inzwischen nach, wo Helmut Koster und Frau Ramoni geblieben sind.«
»Ach ja, die hatte ich ganz vergessen«, sagte Wanja verwundert. »Ich glaube, sie sind in den Park gegangen. Sie hatten sich eine Menge zu erzählen. Helmut gefällt mir gut. Er ist ein prima Kamerad, und er versteht sich mit Natascha, weil er vom Zirkus ist.«
»Wir treffen uns dann wieder hier«, sagte Denise lächelnd, wobei sie überlegte, ob Natascha möglicherweise Helmuts Zirkusprinzessin sein könnte.
Etwa eine halbe Stunde später waren die Würfel gefallen. Wanja hatte sich dafür entschieden, in Sophienlust zu bleiben.
»Justus sagt, wenn man ein richtiger Mann werden will, muss man auch zur Schule gehen«, berichtete er. »Justus ist schon sehr alt. Er muss wissen, was richtig ist.«
Denise breitete die Arme aus und zog den Zirkusjungen liebevoll an sich. »Du bist ein vernünftiger Bursche, Wanja. In Zukunft gehörst du zu uns, und wenn du einmal ein Problem hast, dann musst du damit entweder zu Tante Ma gehen, das ist unsere Frau Rennert, oder du kommst zu mir. Willst du mich Tante Isi nennen, wie es alle Kinder tun?«
Wanja hob das Gesicht zu ihr empor. Seine Augen sahen sie dankbar an. »Schön, dass du meine Tante Isi sein willst. Ich habe ja sonst niemanden. Nur Großvater und Natascha. Meine Eltern sind schon lange tot.«
»Wenn du willst, kannst du gleich hierbleiben«, bot Denise ihm an.
Wanja überlegte. Doch dann schüttelte er den Kopf. »Ich möchte heute Abend noch einmal in der Vorstellung helfen, Tante Isi. Aber morgen komme ich bestimmt, denn morgen wird der Zirkus abgebaut, und es geht weiter.«
»Du könntest mit dem Schulbus der Gymnasiasten fahren. Ich werde dem Chauffeur sagen, dass er zum Zirkus fahren soll.«
Wanja nickte ernsthaft. »Abgemacht, Tante Isi. Morgen Mittag also. Jetzt müssen wir zurück nach Maibach, denn wir müssen uns für die Vorstellung noch umziehen und einiges vorbereiten. Nicht wahr, Großvater, es wird Zeit?«
Gregor Ramoni zog eine altmodische Taschenuhr heraus. »Ja, wir müssen fahren. Du hast recht, Wanja. Dann wird es also heute Abend für einige Zeit deine letzte Vorstellung sein.«
»Ich werde einen Salto rückwärts probieren«, versprach Wanja aufgeregt. »Damit ihr nicht vergesst, was ich alles kann.«
Denise geleitete die Gäste zum Wagen des Zirkusdirektors, und Helmut Koster eilte in die Küche zu Magda, um das Eingemachte in seinen Korb zu packen. Er hätte Andreas Auftrag über der intensiven Unterhaltung mit Natascha fast vergessen.
»Viel Glück«, wünschte die schöne Herrin von Sophienlust, als das Auto sich in Bewegung setzte. »Morgen Mittag kommt der Schulbus zum Zirkusplatz.«
»Danke, gnädige Frau. Wir werden dem Jungen einen Koffer mitgeben, und ich werde jede Woche einen Brief schreiben, damit er immer weiß, wo wir sind und wie es uns geht.«
»Ja, schreiben Sie uns. Wenn Sie uns die jeweiligen Adressen nennen, werden wir Ihnen berichten, wie Wanja sich einlebt und wie ihm die Schule schmeckt«, versprach Denise.
Der Wagen fuhr ab. In Bachenau hielt Ramoni noch einmal kurz an, um Helmut Koster aussteigen zu lassen.
»Es war schön, dass wir uns einmal in Ruhe unterhalten konnten, Helmut«, sagte Natascha leise, als sie dem Tierpfleger die Hand reichte. »Sehen wir uns wieder? Oder wird es jetzt noch einmal so viele Jahre dauern?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Helmut Koster und wandte sich dem Tierheim Waldi & Co. zu, damit niemand sah, wie schwer es ihm fiel, sich von den Zirkusleuten zu trennen. Oder war es vor allem der Abschied von der hübschen Natascha, der ihm zu schaffen machte?
*
Nick war einigermaßen beeindruckt, als seine Mutter ihm und den übrigen Kindern erzählte, dass Wanja Ragell bereits am nächsten Tag zu ihnen kommen werde.
»Ein echter Zirkusjunge«, sagte Nick. »Von Justus habe ich vorhin schon gehört, dass er fabelhaft reiten kann. Andrea erzählte am Telefon von seinem Kopfstand auf dem Verandastuhl. Das wird ziemlich aufregend.«
»Wanja ist ein Bub wie jeder andere«, meinte Denise begütigend. »Ihr müsst versuchen, ihm das Einleben in Sophienlust so leicht wie möglich zu machen. Er verlässt den Zirkus seines Großvaters nicht gerade gern.«
»Ich möchte auch einen Großvater haben, der einen Zirkus besitzt«, stieß Vicky hervor. »Dann könnte ich mitreisen und bräuchte niemals Eintritt zu bezahlen.«
»Du müsstest aber wahrscheinlich auf dem Seil tanzen«, gab Henrik von Schoenecker kichernd zu bedenken. »Da hättest du sicherlich einen ganz schönen Bammel.«
»Müssen denn alle mitarbeiten im Zirkus? Kann nicht jemand auch nur Karten verkaufen und dann zuschauen?«, erkundigte sich Vicky etwas bestürzt.
»Ich glaube, bei Ramoni muss jeder mitarbeiten, denn der Zirkus ist sehr klein«, antwortete Frau Rennert nachdenklich. »Es hätte wohl auch keinen Sinn, nur so durchs Leben zu kutschieren, wenn man nicht richtig mitmachte.«
»Ja, das stimmt«, meinte Pünktchen ernsthaft. »Weißt du, Tante Isi, ich möchte kein Zirkuskind sein.«
»Warum denn nicht?«, fragte Vicky, die den Nachmittag im Zirkus immer noch lebhaft im Gedächtnis trug. »Ich glaube, dass ein richtiges Zirkuskind gern auf dem Seil herumspaziert oder am Trapez hängt. Zirkuskinder haben wahrscheinlich nicht einmal Angst dabei.«
»Aber ich bin lieber in Sophienlust«, erklärte Pünktchen mit größter Entschiedenheit. »Es gibt für mich keinen schöneren Ort auf der ganzen Welt, und ich möchte auch immer hierbleiben.«
Nick lachte sie an. »Sollst du auch, Pünktchen. Niemand schickt dich fort. Schließlich habe ich dich vor vielen Jahren hierhergebracht. Damals war ich selber noch ein winziger Kerl, aber ich denke oft daran.«
»Ich habe es auch nicht vergessen, Nick.« Pünktchen, etwas jünger als Nick, erwiderte den Blick ihres besonderen Freundes mit großer Herzlichkeit. Manchmal träumte sie davon, später Nicks Frau zu sein. Aber dieser Traum war noch unbestimmt, und Pünktchen hätte zu keinem Menschen etwas davon gesagt. Schließlich war sie noch ein kleines Mädchen und musste noch viele Jahre ins Gymnasium gehen, ehe sie ans Heiraten denken konnte.
Denise von Schoenecker, Frau Rennert sowie Schwester Regine, Magda und alle übrigen Betreuer der Kinder hatten an diesem Abend ungezählte Fragen in Sachen Zirkus zu beantworten. Die Sachkenntnisse der Erwachsenen und der Kinder über diesen Gegenstand war nicht allzu groß. Aber die Kinder erinnerten sich lebhaft an den blonden Jungen, der Räder geschlagen und später mit seinem Großvater Geld für die Tiere eingesammelt hatte.
»Hat er keine Eltern?«, wollte Angelika wissen. »Bloß einen Großvater?«
»Seine Eltern leben nicht mehr. Er nennt Direktor Ramoni Großvater, aber er ist ein Pflegekind. Herr Ramoni hat Wanjas Vater versprochen, den Jungen aufzuziehen.«
Pünktchen ergriff Denises Hand. »Wie gut haben wir es, Tante Isi. Du bist immer bei uns, dazu Tante Ma und alle anderen. Und Onkel Alexander ist so etwas wie unser Vati, nicht wahr?«
Henrik nickte eifrig. »Klar, wir sind alle eine einzige große Familie. Und Wanja gehört nun auch dazu, wenn er morgen kommt.«
»Klasse, dass wir ihn beim Zirkus abholen sollen«, meinte Nick. »Das ist wirklich einmal etwas Interessantes.«
*
Ja, und dann stand Wanja etwas verlegen, aber leidlich fröhlich mit