»Na ja, aber eine Weile solltest du schon in Sophienlust aushalten«, mahnte Helmut pflichtschuldigst, denn ihm fiel ein, dass er selbst den Anstoß dazu gegeben hatte, dass Wanja endlich die Schule besuchte. »Bald bist du so weit, dass du die Briefe deines lieben Großvaters allein lesen und auch beantworten kannst.«
»Hm, ich habe eine Menge gelernt«, bestätigte Wanja zufrieden. »Aber es ist vielleicht nicht nötig, dass man alles lernt, was es so in der Schule gibt. Nach einer Zeit werde ich bestimmt genug gelernt haben.«
*
Als der Zirkus in einem etwa sechzig Kilometer entfernten Flecken gastierte, wo Kirchweih und Jubiläum gefeiert wurden, entschloss sich Helmut Koster zu einem Besuch. Er sprach mit Andrea, und diese fragte ihn, ob er denn innerhalb dieses kleinen Unternehmens eine Existenzmöglichkeit für sich sehe.
Helmut Koster bekam einen puterroten Kopf, weil er sich von seiner jungen Herrin, die er tief verehrte, durchschaut sah.
»Ich möchte Herrn Ramoni nur besuchen, Frau von Lehn«, versicherte er hastig, schaute dabei aber auf seine Schuhspitzen. »Daran, dass ich bei ihm eine Stellung finden könnte, ist ehrlich nicht zu denken. Aber ich will ehrlich sein. Wenn es eine solche Möglichkeit gäbe, würde ich wahrscheinlich um meine Entlassung bitten. Wenn Sie mich allerdings nicht entbehren könnten, würde ich selbstverständlich bleiben. Sie haben so viel für mich getan, dass es undankbar wäre, Sie einfach im Stich zu lassen.«
»Nun, vorerst bleiben Sie ja bei uns«, stellte Andrea freundlich fest. »Ich wollte nur einmal mit Ihnen darüber reden, damit Sie wissen, dass ich nicht ohne jedes Verständnis für Ihre Lage bin. Selbstverständlich freue ich mich, wenn Sie bei uns bleiben wollen. Aber es läge mir fern, Sie gegen Ihren Willen zu halten.«
»Ich habe eigentlich nicht direkt ans Fortgehen gedacht. Dass ich mit den Bären und mit Luja ein bisschen arbeiten wollte, nehmen Sie mir doch nicht übel, Frau von Lehn?«
»Aber nein. Die Kinder haben mir davon erzählt, und ich gebe zu, dass ich auch schon einmal heimlich zugeschaut habe. Sie verstehen etwas von der Sache, und man kann vor allem sehen, dass es Isabell, Taps, Tölpl und unserer kleinen Luja regelrechten Spaß macht. Es fehlt eben nur das Zirkuspublikum, das Zelt und alles andere, nicht wahr?«
»Dass Sie das verstehen können, Frau von Lehn«, wunderte sich Helmut Koster.
»Nun ja, ich habe mich halt ein bisschen in Ihre Lage hineingedacht. Jedenfalls wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Zirkus. Wenn Sie mögen, leihe ich Ihnen meinen kleinen Wagen. Ich brauche ihn morgen nicht.«
»Kann ich so etwas annehmen?«, fragte Helmut Koster beschämt.
»Natürlich können Sie. Sie kommen ja dann auch wieder schneller zurück. Wollen Sie Wanja mitnehmen?«
»Er hat Schule am Freitag. Es ist besser, wenn ich allein fahre. Vielleicht würde es ihm auch schwerfallen, danach wieder mit nach Sophienlust zurückzukommen. Er mag zwar die Kinder, Ihre Frau Mutter und alle anderen sehr gut leiden. Aber er hat es schwerer, sich einzuleben, als die übrigen Kinder.«
»Ja, das weiß ich. Unser kleiner Wanja hat ein unruhiges Blut.«
So war einiges, wenn auch durchaus nicht alles, zwischen Andrea von Lehn und dem Tierpfleger geklärt worden. Am Freitagvormittag machte er sich in Andreas Wagen auf den Weg und erreichte den Marktflecken noch vor dem Mittagsläuten.
»Hallo – das nenne ich eine Überraschung«, rief eine klingende Stimme, als er seinen Wagen eben zum Halten gebracht hatte. Wie aus der Erde gewachsen stand Natascha neben dem Auto. Plötzlich wusste Helmut, dass es nicht allein die Zirkusluft gewesen war, die er wieder einmal hatte atmen wollen. Nein, er hatte auch den Wunsch gehabt, Natascha wiederzusehen. Das war auch der tiefere Grund dafür gewesen, warum er Wanja nicht hatte mitnehmen wollen.
»Grüß dich, Natascha.« Helmuts Stimme klang ein bisschen belegt. »Ich habe aus einem Brief deines Vaters erfahren, dass ihr heute hier seid. Frau von Lehn war so freundlich, mir den Wagen zu leihen, und da bin ich nun.«
»Fein ist das«, sagte Natascha herzlich. »Vater wird sich freuen. Er ist im Augenblick beim Bürgermeister, mit dem einiges zu besprechen ist. Es soll etwas über die Geschichte des Ortes in unsere Vorstellung eingebaut werden. Wir machen natürlich alles, denn der Bürgermeister verspricht uns drei Tage lang ein ausverkauftes Zelt. Schön wär’s, und gebrauchen könnten wir es auch.«
Helmut verschloss den Wagen und folgte Natascha über den zertretenen Wiesenplatz zum Wohnwagen der Ramonis. Drinnen deckte sie den Tisch und füllte das bereits fertige Essen, das auf der Kochplatte gestanden hatte, in zwei Teller.
»Du kommst gerade zur rechten Zeit«, meinte sie zufrieden, als sie sich ihm gegenübersetzte.
»Nehme ich das Essen nicht deinem Vater weg?«, fragte Helmut besorgt. »Ich hätte auch im Gasthof eine Wurst essen können.«
»Vater bekommt beim Bürgermeister Schweinebraten. Darauf kannst du dich verlassen. Freue dich doch, dass ich dich einmal einladen kann. Mir macht das nämlich auch Spaß.«
»Okay, vielen Dank. Es schmeckt köstlich. Hast du es gekocht?«
»Ja, natürlich. Ich mache hier alles für Vater, obwohl er es auch allein machen könnte, denn er weiß sich eigentlich immer zu helfen. Aber ich sorge gern für ihn. Er hat genug Ärger durch mich gehabt.«
»Du könntest es doch ändern. Ein Wort von dir würde vielleicht schon genügen.«
»So einfach ist das nicht«, widersprach Natascha. »Außerdem kann ich’s einfach nicht. Schließlich hat Irina nun vielleicht auch ihren Stolz. Wir sind immerhin Zwillinge.«
»Du hast aber darüber nachgedacht?«
»Ich denke immer darüber nach. Doch vom Grübeln allein wird nichts besser. Man vertut nur unnötige Zeit.«
»Da bin ich nicht so sicher. Manchmal fällt einem auch etwas ein. Aber lass dir zuerst sagen, dass es Wanja gut geht. Das möchtest du doch sicher hören.«
»Du hättest ihn mitbringen sollen. Der Junge fehlt uns an allen Ecken und Enden. Man sollte nicht glauben, dass ein so kleiner Bursche eine so große Lücke hinterlassen kann.«
»Er besucht mich oft im Tierheim Waldi & Co. Dann sitzt er bei mir, und wir spielen mit meiner Schimpansin und den beiden Jungbären ein bisschen Mini-Zirkus. Die alte Bärin Isabell tanzt dazu ihren Bärentanz, den sie nicht vergessen hat. Es ist ganz lustig, und wir träumen uns etwas dabei. Verrückt, nicht wahr? Aber ich glaube, es sind die einzigen Stunden, in denen Wanja wirklich ganz zufrieden und glücklich ist.«
»Sind sie nicht gut zu ihm in Sophienlust? Frau von Schoenecker hat doch ein Herz aus lauter Gold«, sagte Natascha erschrocken.
»Natürlich sind alle Leute gut zu deinem Wanja«, beschwichtigte Helmut Koster sie sofort. »Aber so ganz passt unsereins eben nicht in einen geordneten Betrieb wie den von Sophienlust oder den Haushalt der Familie von Lehn, in dem ich lebe. Wenn ich heute in der Zeitung ein Inserat lesen würde, Tierpfleger für Zirkus gesucht, würde ich mich bewerben und auch dann hingehen, wenn der Lohn schlechter wäre als mein jetziges festes Gehalt. So einer bin ich. Ich schäme mich ein bisschen, aber mir ist besser zumute, seit ich weiß, dass Frau von Lehn mich wenigstens versteht.«
»Wir können dir beim besten Willen keinen Job bei uns anbieten, Helmut«, versetzte Natascha betrübt. »Wir kommen ja selber kaum über die Runden. Aber wenn es bei uns einmal besser werden sollte, dann werden wir an dich denken. Du gehörst ja eigentlich sowieso zu uns. Wanderzirkusse werden immer rarer. Du wirst so leicht nichts anderes finden, fürchte ich.«
Helmut Koster löffelte seine kräftige Eintopfsuppe und unterdrückte einen Seufzer. »Nein, ich würde nichts finden«, meinte er nach einer kleinen Weile betrübt. »Es ist nicht zu ändern, und ich werde wohl doch bei Herrn Dr. von Lehn bleiben. Immerhin habe ich dort meine eigene kleine Wohnung und verrichte eine Arbeit, die mir liegt. Es gibt sicherlich Leute vom Zirkus,