Die Gäste wollten bescheiden ablehnen, doch Andrea ließ sich nicht beirren. Marianne erschien mit Kaffee und herrlichen, mit Landwurst aus Schoeneich belegten Broten. Nun kamen auch Wanja und Helmut Koster, der von Andrea ausdrücklich aufgefordert wurde, sich an dem Gespräch zu beteiligen.
Diesmal konnte Natascha nicht davonlaufen, ohne dass es gar zu sehr aufgefallen wäre. Zum ersten Mal streckte sie dem Freund vergangener Tage die Hand hin.
»Nett, dich wiederzusehen nach so langer Zeit, Helmut«, sagte sie leise. »Oder muss ich jetzt Herr Koster zu dir sagen, weil du nicht mehr zum Zirkus gehörst?«
»Ich müsste vielleicht Fräulein Natascha sagen, weil du inzwischen eine erwachsene Dame geworden bist und damals noch ein Kind warst«, erwiderte Helmut, ihre Hand haltend. »Ich habe nicht gewusst, dass du es bist am Trapez. Man erkannte das Gesicht nicht, so dicht unterm Zirkusdach. Du bist sehr gut.«
Sie schüttelte den Kopf, dass ihre dunklen Haare flogen. »Nein, ich bin nicht einmal mittelmäßig. Ein Mädchen allein am Trapez – das ist selten etwas Erstklassiges. Unsere Kunst liegt im Zusammenspiel.«
»Warum suchst du dir keine Partner? Es gibt doch sicherlich gute Leute, die gern mit dir arbeiten würden.«
»Ich will halt nicht. Es hat keinen Zweck mehr, und es geht ja auch so.«
Wanja trat neben sie und nahm ihre Hand. »Wenn ich groß bin, könnte ich versuchen, dein Partner zu werden, Natascha. Aber wir brauchen mindestens noch einen anderen Mann oder ein Mann und ein Mädchen. Ich weiß auch nicht, ob du so viele Jahre auf mich warten willst. Außerdem möchte ich am liebsten mit Löwen und Tigern arbeiten. Das machen nur ganz wenige und ganz große Dompteure. Aber ich hätte bestimmt keine Angst, obgleich ich genau weiß, dass die Tiger immer unberechenbar bleiben, auch wenn man sie schon seit Jahren kennt. Mit Löwen allein ist es viel leichter.«
»Du verstehst allerlei vom Fach«, staunte Helmut Koster. »Ich glaube, du solltest bei den Tieren bleiben und das Trapez lieber anderen überlassen.«
»Ich kann alles, was man beim Zirkus können muss«, behauptete der siebenjährige Junge und stellte sich zum Beweis seiner Worte sofort auf den Kopf.
»Vorsicht, die Kaffeetassen«, rief Andrea etwas erschrocken aus, obwohl man gerade von ihr wirklich nicht behaupten konnte, dass sie nervös sei. Aber die dicken Stiefel des Jungen waren einen Moment lang um Haaresbreite über dem Geschirr gewesen. Immerhin war es kein gewöhnlicher Kopfstand, den Wanja vorführte. Er hatte sich dazu seinen Stuhl auserkoren. Das Ganze sah halsbrecherisch, aber durchaus gekonnt aus.
Jetzt ließ sich Wanja wieder auf seine Füße fallen und lachte mit blitzenden Augen. »Da passiert schon nichts, Frau von Lehn. Ich kann sogar im Wohnwagen bei Großvater Rad schlagen und einen anderthalbfachen Salto machen, ohne dass etwas wackelt.«
»Versuch es lieber hier nicht«, bat Andrea überwältigt. »Ich muss mich erst daran gewöhnen.«
Natascha und Helmut Koster tauschten Blicke heiteren Einverständnisses. Es war, als hätte Wanjas Kopfstand die vergangenen Jahre weggewischt. Natascha schien wieder das Schulmädchen zu sein, das gern zu Helmut Koster ging.
Indessen erkundigte sich Gregor Ramoni bei der jungen Hausfrau nach der Geschichte von Sophienlust.
»Ja, es stimmt«, versetzte Andrea freundlich. »Mein Bruder Nick hat Sophienlust von seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin geerbt. Die alte Dame hatte wohl ein besonderes Herz für Kinder. Jedenfalls bestimmte sie in ihrem Testament, dass das alte Herrenhaus in eine Zufluchtsstätte für in Not oder Schwierigkeiten geratene Kinder umgewandelt werden sollte. Auch Erwachsene finden in besonderen Situationen gelegentlich dort Aufnahme. Das Haus eignet sich vorzüglich für den gedachten Zweck, und unsere Mutter begann seinerzeit unverzüglich damit, das große Werk zu verwirklichen. Sophienlust ist hier in der Gegend zu einem Begriff geworden. Wir sind stolz darauf, und die Kinder von Sophienlust sind es nicht minder. Meine Mutter hat es sich gemeinsam mit den übrigen Betreuern zur Aufgabe gemacht, den Kindern die Augen für den Wert des Daseins zu öffnen und ihnen Liebe zu schenken. Sie sollen frei denkende, frohe Menschen werden und über der Zufriedenheit und dem Sattwerden die Augen für das Leid anderer offen halten. Es klingt traurig, aber die Mehrzahl unserer Sophienluster Kinder hat Bitteres und Schweres durchleben müssen. Vielleicht sind sie gerade aus diesem Grunde besonders dankbar, besonders fröhlich und auch besonders hilfsbereit.«
»Sie nennen es das Haus der glücklichen Kinder«, warf Wanja ein, der aufmerksam zugehört hatte. »Und das Tierheim hier heißt das Heim der glücklichen Tiere. Das gefällt mir gut.«
»Möchtest du denn gern für eine Weile in Sophienlust bleiben?«, fragte der Zirkusdirektor den Jungen.
»Nach Sophienlust möchte ich schon«, äußerte Wanja in seiner trockenen Art. »Aber ich weiß nicht genau, ob ich auch in die Schule gehen möchte.«
»Es macht Spaß, wenn man lesen lernt, um dann spannende Geschichten lesen zu können«, meinte Andrea.
Wanja schob die Unterlippe vor. »Aber Natascha kann prima vorlesen«, wandte er ein. »Es ist viel gemütlicher, wenn man auf dem Boden liegen und zuhören kann.«
»Du bist ein kleiner Faulpelz«, schalt Natascha. »Ich habe nicht immer Zeit, um dir Geschichten vorzulesen. Wenn du erwachsen bist, musst du einfach lesen und schreiben können. Auch das Rechnen ist nötig, sonst hauen dich die Leute mit dem Geld übers Ohr.«
»Geld zählen kann ich längst«, behauptete Wanja unbekümmert. »Außerdem dauert es noch sehr, sehr lange, bis ich erwachsen bin. Deshalb muss ich doch jetzt nicht zur Schule gehen.«
Allzu groß war die Begeisterung des Buben, sich in die Geheimnisse der Wissenschaften einführen zu lassen, offensichtlich nicht. Doch Andrea von Lehn ließ sich nicht beirren. Sie schilderte das Kinderheim lebendig und eindrucksvoll und berichtete auch von einigen Kinderschicksalen. Allmählich gelang es ihr auf diese Weise, die Anteilnahme des skeptischen Zirkusjungen zu wecken.
Während Gregor Ramoni und Wanja sich eingehend mit Andrea unterhielten, blieben Natascha und Helmut sich selbst überlassen. Sie sprachen nichts, aber sie sahen sich einander an und dachten stumm an die Zeit, in der sie täglich beisammen gewesen waren.
Sie hat die schöneren Augen der beiden Mädchen, dachte Helmut. Sonst sind sie bestimmt auch heute noch ganz gleich.
Schließlich erinnerte Andrea daran, dass es Zeit sei, nach Sophienlust aufzubrechen.
»Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft, Frau von Lehn«, sagte der Zirkusdirektor mit Würde und küsste der Hausfrau die Hand. »Könnte uns Helmust Koster wohl begleiten, um uns den Weg zu zeigen? Oder möchten Sie ihn jetzt nicht entbehren?«
»Selbstverständlich soll er mit Ihnen fahren. Bei der Gelegenheit wäre es nett, wenn Sie mir von Magda einige Gläser mit Eingemachtem mitbringen könnten, Helmut«, forderte Andrea den Tierpfleger auf. »Nehmen Sie auf alle Fälle einen Korb mit.«
Helmut war gern dazu bereit. Sein ganzes Interesse galt jedoch den Ramonis und dem sympathischen Jungen. Vor allem wollte er aus erster Hand erfahren, wie die Sache mit Wanja ausgehen würde.
»Mein Wagen ist nicht gerade neu«, sagte Gregor Ramoni zu Helmut Koster. »Aber auf den Motor kann ich mich verlassen.«
Natascha und der Junge nahmen hinten Platz, Helmut Koster setzte sich neben den Direktor, der in Bezug auf seinen Motor nicht zu viel versprochen hatte. In rascher Fahrt erreichten sie Sophienlust, auf das verschiedene holzgeschnitzte Wegweiser hindeuteten.
Als das Herrenhaus auftauchte, rief Wanja, der sich die Nase am hinteren Scheibenfenster plattdrückte, erstaunt aus: »Das sieht ja wie ein Schloss aus. Ist es das überhaupt?«
»Doch, doch, das ist es schon, Wanja«, versicherte Helmut Koster. »Fein, dass es dir so gut gefällt.«
»In einem so feinen, großen Haus möchte ich schon einmal wohnen«, erklärte Wanja mit einem kleinen Seufzer.
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Denise