»Nun ja, so ähnlich. Ich habe es mir nicht genau überlegt. Aber seit ich bei Herrn und Frau von Lehn lebe – das sind Schwiegersohn und Tochter des Ehepaars von Schoenecker – habe ich gelernt, dass man sich über das Schicksal und die Zukunft von Kindern, die keine Eltern mehr haben, lieber ein paar Gedanken zu viel als zu wenig machen soll. Wenn Sie wollen, spreche ich zuerst mit der jungen Frau von Lehn und erzähle ihr von Wanjas Schicksal. Dann soll sie mir sagen, ob es richtig wäre, ihre Mutter um einen Platz für Wanja in Sophienlust zu bitten.«
»Tiere und Kinder sind dort. Es klingt ganz fröhlich«, sagte der Direktor leise. »Aber ich muss es mir noch überlegen. Wir bleiben noch bis übermorgen. Natürlich kann ich nicht von Ihnen verlangen, dass Sie wegen des Jungen noch einmal nach Maibach kommen.«
»Es verkehrt ein Bus. Das wäre kein Problem«, versetzte Helmut Koster rasch. »Aber ich freue mich natürlich auch, wenn Sie sich die Zeit nehmen und mich besuchen. Immerhin würden Sie ja Wanja nicht nach Sophienlust geben, ohne sich das Heim vorher angesehen zu haben. Es ist wirklich ein ganz ungewöhnliches unternehmen. Sie brauchen sich hier in Maibach nur einmal in der Schule oder in den Geschäften nach Sophienlust zu erkundigen. Dann werden Sie feststellen, dass das Kinderheim überall sehr geschätzt ist.«
»Aber ich möchte nicht, dass aus meinem natürlichen, unverbildeten Wanja, ein herrschaftlicher Junge wie aus dem letzten Jahrhundert gemacht wird. Gutsbetrieb, Herrenhaus, Reitpferde und ein adeliger Name, das alles passt nicht zum Zirkus, fürchte ich.«
Helmut Koster stieß einen Seufzer aus. »Es gibt wahrscheinlich nur einen einzigen Menschen, der sie davon überzeugen kann, dass Sophienlust trotzdem der einzig richtige Platz für Wanja wäre.«
»Wer ist das denn?«, erkundigte sich Ramoni.
»Frau von Schoenecker selber, Nicks Mutter. Sie hat Verständnis für jeden Menschen.«
»So eine feine Dame? Ich habe sie, glaube ich, mit den Kindern im Zelt gesehen. Sie gab mir auch ein großes Geldstück auf den Teller.«
»Das wird sie gewesen sein. Dunkles Haar, lebhafte dunkle Augen, sehr schlank?«
»Hm, so sah sie aus. Eigentlich noch sehr jugendlich. Und auch so, als ob sie Temperament hätte«, gestand der lebenserfahrene Zirkusdirektor mit einem winzigen Lächeln.
»Sehen Sie, das war sie! Soll ich Ihnen verraten, was sie früher war, ehe sie heiratete, ihren Mann verlor und dann wieder heiratete?«
»Was soll sie denn gewesen sein?«, fragte Romani mit einer gewissen Neugier.
»Sie hat auf der Bühne gestanden und getanzt. So verdiente sie ihr Geld.«
»Ja, diese Frau könnte ich mir als Spitzentänzerin gut vorstellen«, rief Ramoni halblaut aus.
»Sehen Sie, jetzt erscheint sie Ihnen schon vertrauter«, triumphierte Helmut Koster. »Und nach dem Tod ihres ersten Mannes verdiente sie den Lebensunterhalt für sich und das Kind wieder durch ihre Tanzkunst. Sie hatte wahrhaftig kein leichtes Leben, ehe sie nach Sophienlust kam, und sie hat sich dadurch bis auf den heutigen Tag ein offenes Herz für die Menschen bewahrt, die in Schwierigkeiten sind und die zu ihr kommen. Sie können also ganz offen mit ihr sprechen.«
»Wenn das so ist … Nun ja, unter diesen Umständen wäre ja wohl darüber nachzudenken. Aber ich möchte Sie doch bitten, zuerst mit der jungen Dame zu sprechen. Und behandeln Sie bitte unsere Familienangelegenheiten mit Diskretion. Ich bin zwar jetzt ein armer Mann geworden, aber ich möchte mir mit unseren augenblicklichen Schwierigkeiten kein Mitleid einhandeln. Sie verstehen das sicherlich.«
Genauso stolz wie seine Tochter, dachte Helmut Koster und konnte dem Direktor seine Hochachtung nicht versagen. »Die Schule in Wildmoos ist sehr gut«, sagte er nur. »Unternehmen wir also einen Versuch. Niemand würde es Ihnen verübeln, wenn Sie am Ende doch nein sagen und lieber noch ein Jahr Schulaufschub für Wanja erbitten würden.«
»Er sollte seine Chance bekommen. Er ist nun schon sieben Jahre alt und ein aufgewecktes Kerlchen. Sie würden sich doch seiner auch ein bisschen annehmen, Helmut? Ist es weit vom Tierheim zu dem Kinderheim?«
»Nein, gar nicht. Ich denke, dass Wanja ohnehin oft ins Tierheim kommen würde. Ich habe mit einer Schimpansin und zwei Jungbären so etwas wie eine Nummer einstudiert. Das würde Wanja sicherlich interessieren. Kümmert sich Natascha denn ein bisschen um den Jungen?«
»Sie ist sehr verschlossen und zurückhaltend, obwohl sie früher genau das Gegenteil davon war. Aber sie versteht sich gut mit Wanja. Wenn er einmal krank ist, geht er zu Natascha und sagt es ihr. Einmal hat sie zwei Nächte lang an seinem Bett zugebracht, als er hohes Fieber hatte. Ich möchte sagen, die beiden haben ein gutes Verhältnis zueinander, wenn Natascha auch nicht viel davon hermacht. Und für Wanja ist es selbstverständlich, weil er mich als seinen Großvater betrachtet und Natascha meine Tochter ist.«
»Glaubt Wanja denn, dass Sie wirklich sein Großvater sind?«
»Nein. Er weiß, dass er keine Verwandten mehr hat. Aber er hat mich von klein auf Großvater genannt, und so soll es auch bleiben. Ich habe den Jungen lieb, und ich bin sicher, dass auch er mich recht gernhat.«
»Mehr als das, Signor Ramoni«, meinte Helmut Koster zuversichtlich. »Es ist bei aller Tragik doch ein Glück, dass der Junge Natascha und Sie hat.«
Der Tierpfleger sah auf seine Uhr und überlegte, dass er in zehn Minuten einen Omnibus nach Bachenau erreichen könnte. Er verabschiedete sich deshalb etwas überhastet. Mit festem Händedruck versprach er Gregor Ramoni, dass er sich wegen des Jungen mit Andrea von Lehn beraten werde.
»Aber machen Sie nichts Festes aus«, rief der Zirkusdirektor hinter ihm her, als wollte er sich alle Türen für einen Rückzug vorsorglich offen halten.
Kurz darauf kam Natascha zu ihm.
»Habt ihr alte Erinnerungen aufgefrischt?«, fragte sie ein wenig aggressiv. »Du hast ihm sicherlich auch erzählt, dass alles meine Schuld ist, weil ich mit Irina und Fedor nicht mehr arbeiten will«, fügte sie trotzig hinzu.
»Wir haben davon gesprochen, Natascha. Aber ich habe keineswegs behauptet, dass unser augenblicklicher Zustand deine Schuld wäre. Es hat genügend andere Gründe dafür gegeben.«
Natascha war zufrieden. Sie hockte sich in den Sessel, in dem eben noch der Tierpfleger gesessen hatte. »Er schaut gut aus, der Helmut«, meinte sie gedankenvoll. »Erzähl mir, was aus ihm geworden ist. Mit einem Zirkus hat er wohl nichts mehr im Sinn?«
Natascha fragte an diesem Abend noch lange und viel nach Helmut Koster, während der Regen auf das Dach des Wohnwagens trommelte und ihr Vater neuen Kaffee zubereitete.
*
Andrea von Lehn staunte nicht schlecht, als bereits am nächsten Vormittag ein betagtes Auto vor der Einfahrt hielt, dem der in seinen besten Anzug gekleidete Zirkusdirektor mit seiner Tochter Natascha und Wanja entstiegen, die allesamt gekommen waren, um sich mit ihr über den großen Plan zu unterhalten, den Helmut Koster sozusagen mit einem Wort ins Leben gerufen hatte.
Immerhin war am Abend zuvor für Helmut Koster noch Gelegenheit gewesen, mit Dr. von Lehn und dessen Frau über den Jungen zu sprechen. So wusste Andrea wenigstens, worum es sich handelte. Während Wanja das Tierheim besichtigte und mit Helmut erste Freundschaft schloss, erteilte sie dem alten Herrn und seiner Tochter den Rat, gleich nach Sophienlust weiterzufahren und sich das Kinderheim einmal anzusehen. Zunächst jedoch telefonierte sie mit ihrer Mutter, denn sie hatte ihr noch nicht erzählen können, dass möglicherweise ein Junge aus dem kleinen Zirkus nach Sophienlust kommen sollte.
Mit zuversichtlichem, heiterem Gesicht kehrte Andrea zu ihren Besuchern zurück. »Meine Mutter hat gerade etwas in Schoeneich zu tun. Sie erwartet Sie in etwa anderthalb Stunden. Haben Sie so viel Zeit, Herr Ramoni? Ist heute auch Vorstellung?«
»Nur am Abend. Die Nachmittagsvorstellung haben wir abgesagt, weil die Schulkinder inzwischen da waren«, erwiderte Natascha anstelle