Lisa strich sich mit der Hand über die Augen. »Deine Mutter?«, fragte sie ahnungsvoll.
»Ich möchte nicht darüber sprechen. Es ist vorbei. Ich kann heute nur versuchen, meine Schuld von damals ein wenig auszugleichen. Mehr erwarte ich nicht.«
Axel Fernau führte seine Frau an diesem Abend zum Essen aus. Die beiden verstanden einander so gut, wie es während ihrer kurzen Ehe niemals der Fall gewesen war. Der Abschied war herzlich und aufrichtig.
*
Henrik von Schoenecker sah den Besucher in einem schneeweißen Auto vorfahren. Ein großer, schlanker Herr mit blondem Haar, sonnengebräunter Haut und lebhaften dunklen Augen. Er trug elegante Sportkleidung und betrachtete das schöne Gutshaus mit offensichtlichem Entzücken.
»Bin ich hier in Schoeneich, mein Junge?«, wandte er sich an Henrik.
»Ja, dies ist Gut Schoeneich, und ich bin Henrik von Schoenecker. Möchten Sie zu meinem Vati?«
»Ich bin Axel Fernau«, erwiderte der Besucher und deutete eine Verbeugung an wie vor einem Erwachsenen. »Mein Besuch gilt in erster Linie Frau Linden. Trifft es zu, dass sie hier wohnt?«
»Ja, natürlich. Frau Linden liegt auf der Terrasse in der Sonne. Bestimmt freut sie sich, dass Sie da sind. Soll ich zu ihr gehen und ihr etwas ausrichten?«, erbot sich Henrik.
»Nein, danke, ich gehe ums Haus herum und werde sie überraschen.«
»Aber eigentlich muss man einen Besucher richtig anmelden, Herr Fernau«, zögerte Henrik.
»Eigentlich schon, aber bei Frau Linden und mir ist das etwas anderes. Weißt du, ich habe nämlich vor ein paar Jahren etwas Dummes gemacht und möchte sie um Entschuldigung bitten. Vielleicht ist sie mir noch böse. Dann könnte es sein, dass sie sagt, sie wolle mich nicht sehen. Deshalb wäre es gut, wenn ich sie überraschen könnte. Dann kann sie mich wenigstens nicht fortschicken, ohne mich angehört zu haben.«
Henrik überlegte. Dann nickte er, weil er die Argumente des Mannes, der ihm unheimlich gut gefiel, einsah.
»Aber Sie müssen erlauben, dass ich meinem Vati Bescheid sage. Ist das in Ordnung?«
»Ja, natürlich, Henrik. Ich bin sogar bereit, hier auf deinen Vater zu warten.«
»Nein, das brauchen Sie nicht, Vati kommt dann später auf die Terrasse. Zuerst müssen Sie ja mit Frau Linden allein reden, damit die Dummheit wiedergutgemacht werden kann.«
»Hm, so ähnlich. Du kannst mir den Daumen halten, dass es klappt. So ganz einfach ist es nämlich nicht für mich.«
Axel Fernau schlug den schmalen Weg, der um das Gutshaus herumführte, ein. Er erblickte Rosita, die unter einem ausgespannten Schirm in der Sonne lag, sah die Krücken am Stuhl lehnen, und das Herz tat ihm weh.
Rosita las in einem Buch und hob die Lider, als ein Schatten auf das Buch fiel.
»Rosita …«
»Axel – du? Nach so vielen Jahren? Was möchtest du? Bist du etwa meinetwegen hier? Oder besuchst du die Familie von Schoenecker?« Rosita war völlig verwirrt.
»Ich bin allein deinetwegen hier. Ich komme aus Buenos Aires. Eben habe ich einem kleinen Jungen erklärt, dass ich versuchen möchte, etwas wiedergutzumachen. Wirst du mich anhören?«
Rosita kämpfte mit sich. Ihr Stolz gebot ihr, ihn fortzuschicken, doch ihr Herz schien keinen Stolz zu kennen. Die Welt schien versunken. Sie war auf der übersonnten Terrasse allein mit Axel Fernau, an den sie eben gedacht hatte. Kittys wiederholte Fragen nach ihrem Vater hatten dafür gesorgt, dass sie ihn nicht hatte vergessen können.
»Rosita – ich bitte dich – schick mich jetzt nicht fort. Ich muss einmal mit dir sprechen. Damals in Paris hast du mir keine Möglichkeit dazu gegeben. Erst seit etwa zwei Wochen weiß ich, was damals wirklich geschehen ist.«
»Du …, du hast die Komtess geheiratet. Damit war die Entscheidung gefallen. Deine Mutter teilte mir in aller Form mit, dass du die ganze Zeit über nicht mehr frei, sondern mit Lisa Lichtenfels verlobt gewesen wärest.«
»Halt, Rosita, sprich nicht weiter! Leider muss ich hier etwas Schlechtes über meine eigene Mutter äußern. Sie weiß, dass ich das tun werde. Meine Mutter hat dich bewusst belogen, weil sie den Wunsch hatte, Lisa zur Schwiegertochter zu bekommen. Ihr war jedes Mittel recht, und sie zerstörte damit unsere Liebe.«
Rosita ließ das Buch zu Boden fallen. Tränen traten in ihre Augen. »Jetzt ist es zu spät, Axel. Ich hätte ihr nicht glauben dürfen, aber ich war damals so tief verletzt, dass ich dir sofort jenen Brief schrieb.«
In diesem Moment kam Alexander von Schoenecker auf die Terrasse, mit Henrik an der Hand. Vielleicht war es gut, dass die beiden tief aufgewühlten Menschen sich nun zusammennehmen mussten und zunächst nichts anderes tun konnten, als Begrüßung und Vorstellung zu bewerkstelligen, so gut es eben gehen wollte.
Der Gutsherr sorgte dafür, dass der Gast eine Erfrischung bekam. Da sein Sohn ihm anvertraut hatte, dass es zwischen Rosita Linden und dem Botschaftsrat aus Buenos Aires ein persönliches Problem zu regeln gebe, zog sich Alexander bald wieder zurück. Er überredete auch den etwas neugierigen Henrik, mit ihm zu kommen.
»Wie hast du meine Adresse erfahren?«, fragte Rosita schließlich unsicher, als sie wieder mit Axel allein war.
»Hier – lies selbst. Diesen Brief habe ich erhalten.« Axel reichte ihr Mariannes Schreiben, und Rosita las es mit banger Sorge. Doch zu ihrer grenzenlosen Erleichterung hatte das getreue Mädchen sein Wort gehalten und nichts von Kittys Existenz erwähnt. Schon die ganze Zeit über war Rosita von der Angst gepeinigt worden, Axel habe von dem Kind erfahren. Das wollte sie unter keinen Umständen. Er sollte sich ihr gegenüber nicht verpflichtet fühlen.
»Marianne hat dir also geschrieben. Das hätte sie nicht tun dürfen«, sagte Rosita leise. »Du siehst, es geht mir ganz gut. Ich habe seit dem Unfall Fortschritte gemacht und benutze die Krücken jetzt nur noch, um die verheilten Bruchstellen nicht zu stark zu belasten. Nur das Geigen geht nicht mehr so wie früher. Ich muss auf meine Laufbahn als Musikerin verzichten, so schwer es mir auch fällt.«
»Ich will versuchen, dir zu helfen, Rosita. Mariannes Brief hat mich tief bewegt. Ich sprach mit meiner Mutter. Dabei erfuhr ich endlich, dass sie uns damals auseinandergebracht hat. Damit gab es für mich kein Halten mehr. Ich bin so schnell wie möglich nach Deutschland geflogen, um dich zu sehen.«
»Aber deine Frau …?«
»Ich werde in Kürze von ihr geschieden. Wir haben beide eingesehen, dass unsere Ehe ein tragischer Irrtum war. Lisa liebt einen Italiener und wird dessen Frau werden, sofern er seinerseits die legale Trennung seiner noch bestehenden Ehe erreichen kann.«
»Du hast viel durchlitten in dieser Zeit«, sagte Rosita leise. »Komm, setz dich doch endlich.«
Axel rückte sich einen der weißen Stühle so zurecht, dass er Rosita ansehen konnte. Wie schön sie noch immer ist, dachte er. Zwar hat das Leben einige Linien in ihr ausdrucksvolles Gesicht gezeichnet, doch hat dieses dadurch noch gewonnen.
Ein Mädchen kam mit einem Tablett und servierte Getränke und einige Brötchen.
»Ich lebe hier wie eine Prinzessin, Axel«, sagte Rosita, nachdem das Mädchen wieder gegangen war. »Aber ich bin arm wie eine Kirchenmaus. Sobald es mir besser geht, darf ich die großzügige Gastfreundschaft der Schoeneckers nicht mehr in Anspruch nehmen.«
»Was …, was willst du tun, wenn du nicht mehr Geige spielen kannst, Rosita?«, fragte er besorgt.
»Für das Erteilen von Unterricht wird es hoffentlich noch reichen, Axel. Das scheint mir die einzige Möglichkeit zu sein, denn etwas anderes als Musik habe ich nun einmal nicht studiert.«
Er griff nach ihrer Hand. »Diese – die rechte Hand?«, fragte er und strich behutsam mit dem Finger darüber.