Marianne liebte ihre junge Herrin, die sie bei sich aufgenommen hatte, als sie nicht gewusst hatte, wohin sie sich wenden sollte. Bei ihr hatte sie ein neues glückliches Zuhause gefunden. Vom ersten Tag an hatte Rosita ihr aufrichtige Freundschaft und Fürsorge entgegengebracht. Deshalb empfand Marianne nun den Wunsch, dies alles zu vergelten und Rosita ihrerseits einen Dienst zu erweisen.
Wie schon einmal vor Wochen beschloss Marianne, einen Brief an Axel Fernau zu schreiben. Deutsche Botschaft Buenos Aires. Das hatte sie nicht vergessen. Sie war auch ziemlich sicher, dass der Brief sein Ziel erreichen würde. Was sie aber schreiben sollte, nein, das wusste sie noch immer nicht.
Sie wollte ihr einmal gegebenes Wort natürlich nicht brechen, und deshalb durfte Kitty in dem Brief unter keinen Umständen erwähnt werden. Aber Rosita hatte ihr nicht verboten, etwas über ihre jetzige aussichtslose Lage zu schreiben. Vielleicht würde Axel Fernau ihr helfen? Wie, das vermochte Marianne sich zwar nicht recht vorzustellen, aber sie konnte einfach nicht glauben, dass dieser sympathische Mann, der auch auf sie einen tiefen Eindruck gemacht hatte, mit Rosita ein so gemeines Spiel getrieben haben sollte. Vielleicht war alles ganz anders gewesen, als ihre Herrin damals vermutet hatte? Wenn es also einen Ausweg gab, dann wollte sie versuchen, diesen zu finden.
Wieder einmal verbrauchte Marianne in einer stillen Nacht viele, viele Briefbogen. Doch am Ende landete der letzte nicht im Papierkorb, sondern sorgsam gefaltet in einem Umschlag.
Marianne hatte nichts von Rositas Enttäuschung geschrieben. Es war ein sachlicher, höflicher Brief geworden. Ob er sich an Rosita Linden erinnere? Sie – Marianne – sei immer noch bei ihr und mache sich Sorgen um die Zukunft ihrer Herrin. Von dem Unfall hatte Marianne berichtet und auch davon, dass die Künstlerin nie wieder auf dem Konzertpodium stehen würde. Ganz am Schluss hatte sie auch erwähnt, dass finanzielle Sorgen entstanden seien.
Mehrmals hatte Marianne den Brief durchgelesen. Nun legte sie ihn beiseite, kleidete sich aus und ging zu Bett. Vielleicht werde ich den Brief morgen früh genauso zerreißen wie die anderen, dachte sie. Doch das Schicksal wollte es anders.
Am anderen Morgen wurde Marianne von Rosita gebeten, zwei wichtige Briefe für sie zur Poststelle in Wildmoos zu bringen. Auch Denise von Schoenecker hatte einen Auftrag für sie. Es war Geld einzuzahlen.
So setzte sich Marianne auf Nicks Fahrrad und nahm ihren eigenen Brief ebenfalls mit. Die Postbeamtin empfahl ihr, einen Luftpostumschlag zu nehmen, sah in einem amtlichen Verzeichnis nach und half ihr, die Adresse so zu schreiben, dass der Brief seinen Empfänger sicher erreichen konnte. Danach gab es kein Zurück mehr.
Marianne erschrak ein bisschen, als sie wieder auf der Straße stand. Es war so leicht und einfach gegangen, dass ihr nun erst bewusst wurde, was sie getan hatte.
»Ich habe ihm geschrieben und den Brief auch wirklich abgeschickt, obgleich ich es mir noch einmal überlegen wollte«, flüsterte sie bestürzt. Aber nun konnte sie den Brief nicht mehr zurückholen und musst sich damit abfinden.
»Vielleicht kommt er gar nicht an. Buenos Aires ist sehr weit weg. Da gehen bestimmt viele Briefe unterwegs verloren«, setzte Marianne ihr Selbstgespräch fort, während sie wieder auf das Fahrrad stieg, um nach Schoeneich zurückzufahren. Aber ein rechter Trost war das für sie nicht. Wahrscheinlich war, dass der Brief ankam.
Er ist verheiratet und kann gar nichts machen, überlegte sie weiter. Wenn er einmal Geld schickt, hilft ihr das zwar ein bisschen weiter – aber sonst nichts. Nein, ich hätte nicht schreiben sollen, dachte sie. Jetzt kam ihr auch zu Bewusstsein, dass Rosita Linden ärgerlich werden und ihr Vorwürfe machen könnte. Sie malte sich den Zorn ihrer Herrin aus und hielt unterwegs an, weil sie fest entschlossen war, den Brief wieder zurückzuholen. Doch dann sah sie das gelbe Postauto vorbeifahren und wusste, dass sie zu spät kommen würde.
»Es hat nicht sollen sein«, flüsterte sie ergeben. »Jetzt kann ich den Brief nicht mehr aufhalten. Was wird Herr Fernau nur von mir denken?«
Marianne radelte zurück und hatte den ganzen Tag über ein schlechtes Gewissen. Auch in den folgenden Tagen musste sie immer wieder an ihren Brief denken, doch allmählich geriet das, was sie unternommen hatte, ein wenig in den Hintergrund. Mit jedem Tag, der verging, wuchs nämlich ihre Hoffnung, dass ihr Schreiben seinen Empfänger nicht erreichen würde.
*
Indessen besann sich Kitty auf die Gespräche, die sie mit Heidi, Henrik und gelegentlich auch mit anderen Kindern über ihren unbekannten Vater geführt hatte.
An einem trüben, verhangenen Nachmittag, als sie bei ihrer Mutter in Schoeneich war, setzte sie ihren Vorsatz in die Tat um und fragte nach ihrem Vater.
Rosita und ihr Töchterchen hatten sich wieder einmal über den Hasen Mummel unterhalten. Es ging dem kleinen Mümmelmann ausgezeichnet, und wenn Kitty im Freigehege erschien, hoppelte der Junghase stets sofort auf seine kleine Herrin zu, die ihm diese Anhänglichkeit mit großer Liebe vergalt und ihn gern mit süßen Kleeblättern oder einer saftigen Möhre verwöhnte.
»Henrik sagt, dass Langohr bestimmt Mummels Vater ist, denn alle Tiere haben einen Vater. Schade, dass du Langohr nicht mehr gesehen hast, Mutti. Er war ein schöner großer Hasenvater.«
Noch ahnte Rosita nicht, was auf sie zukommen sollte. »Ist er nie mehr zum Tierheim gekommen, nachdem er fortgelaufen war?«
»Nein, gar nicht. Du, Mutti …«
»Ja, mein Kleines, was möchtest du denn?«
»Haben alle Tiere und alle Kinder einen Vater?«
»Ja, gewiss.«
»Aber man kennt seinen Vati nicht immer, nicht wahr?«
»Nein, manchmal kennt man ihn nicht«, sagte Rosita leise. Zugleich war sie sich der Tatsache bewusst, dass nun eine schwerwiegende Frage an sie gerichtet werden würde.
»Habe ich auch einen Vati wie die Hasen und die anderen Tiere und alle Kinder?« Mit gespannter Aufmerksamkeit schaute Kitty ihre Mutter an.
»Ja, du hast auch einen.«
»Kennst du ihn?«
»Ja, natürlich, Kitty. Die Mütter kennen den Vater nämlich immer.«
»Aber warum kenne ich meinen Vati nicht? Ist er so ein Vati wie Nicks und Henriks Vati? Oder ist er wie Justus? Oder wie der Förster?«
»Dein Vati ist sehr, sehr weit weg. Ich glaube nicht, dass du ihn kennen lernen wirst.«
»Warum ist er weg?«
»Dein Vati und ich, wir haben uns damals, als du geboren wurdest, bald getrennt und sind verschiedene Wege gegangen. Ich habe Geige gespielt, und du bliebst bei mir. Aber dein Vater musste in ein fremdes Land, weil das sein Beruf so mit sich brachte. Zuerst waren wir in Paris. Das liegt in Frankreich. Dann kehrten wir beide nach Deutschland zurück, aber dein Vater blieb in Paris, bis er nach Südamerika versetzt wurde. Dort ist er jetzt.«
»Südamerika. Das muss sehr weit weg sein. Schade. Ich würde ihn gern einmal sehen. Wenigstens ein einziges Mal. Weil er doch mein Vati ist.«
»Vielleicht später, wenn du erwachsen bist, Kitty. Jetzt geht es nicht, weil es wirklich viel zu weit wäre.«
»Dass man immer warten muss, bis man groß ist«, seufzte Kitty.
»Warum möchtest du ihn denn unbedingt sehen?«
»Weil ich ihn vielleicht liebhabe, dachte ich«, entgegnete das kleine Ding voll gläubiger Zuversicht. »Wenn ich ihn gar nicht kenne, kann ich doch nicht wissen, ob ich ihn liebhabe. Hat er mich denn lieb?«
Rosita zögerte. Das war eine Frage, die sich nur schwer der Wahrheit entsprechend beantworten ließ. Wie hätte sie dem Kind erklären sollen, dass Axel Fernau vom Vorhandensein seines Töchterchens gar nichts ahnte? Hinzu kam, dass Kitty gewiss erwartete, von jedermann – also auch von dem ihr unbekannten Vater – geliebt zu werden. Ein jedes Kind nahm wohl als selbstverständlich an, dass ihm Liebe entgegengebracht