Ihre Position war erst kürzlich nach monatelanger freier Mitarbeit finalisiert worden. Ihr gefiel die Arbeit, hauptsächlich, weil sie sich nicht mit Bürokratie oder dem üblichen Geschäftskram abgeben musste, der ihr an ihren frühen Jobs immer so missfallen hatte. Das Unternehmen war vor über vierzig Jahren gegründet worden und erfreute sich immer noch steten Wachstums. Dr. Torres nahm eine Schlüsselposition ein und sollte das Unternehmen im Bereich der Molekularforschung voranbringen.
Dr. Torres klickte die E-Mail an, die keinen Betreff hatte, und begann den Inhalt zu lesen. Die Nachricht war kurz und direkt. Eine Bitte um Hilfe bei einem speziellen Projekt. Sie schob eine alte Burger-Verpackung und eine halb leere Coladose beiseite, die ihre Tastatur blockierten, rollte ihren Stuhl näher an den Schreibtisch und klickte auf das Antwort-Feld. Während ihre Finger über die Tasten huschten, um eine Standardantwort auf das Hilfegesuch zu tippen, warf sie einen flüchtigen Blick auf den Absender des Schreibens.
Sie musste ein zweites Mal hinsehen und las die Adresse dann erneut. Anschließend nahm sie die Hände von der Tastatur, um ihre Antwort noch einmal zu überdenken. Sie griff nach der Coladose, nahm einen großen Schluck von der abgestandenen Limonade und las die E-Mail noch einmal komplett durch.
Ich brauche hierbei deine Hilfe. Schicke dir bald die Probe. Kommt von der Yellowstone-Explosion. Bitte schnell bearbeiten. Ich melde mich bald wieder.
Ben
Der Ben? Sie hatte seit über zehn Jahren nichts mehr von ihm gehört. Sie wusste nur, dass er Park-Ranger geworden war und mit der Außenwelt so gut wie nichts zu tun hatte. Deshalb war sie doch einigermaßen von dieser Nachricht überwältigt.
Sie holte ihr Telefon hervor – ein Klapphandy, das sie schon seit unzähligen Jahren hatte – und durchsuchte ihre Kontaktliste. Als sie seinen Namen endlich gefunden hatte, schwebte ihr Finger über der Wähltaste. Sie hatte diese Nummer tatsächlich noch nie benutzt. Sie starrte das Telefon noch einige Sekunden lang an und klappte es dann wieder zu.
Jetzt nicht, dachte sie. Noch nicht zumindest.
Verschiedenste Gedanken rasten durch ihren Kopf. Wo war er? Was machte er? Warum brauchte er ausgerechnet ihre Hilfe?
Sie saß noch eine ganze Weile grübelnd auf ihrem Stuhl und bewegte sich nicht, bis ihr Assistent schließlich den Raum betrat.
»Diana?« Die Stimme des jungen Mannes riss sie abrupt aus ihren Gedanken. Sie versuchte den verwirrten Ausdruck auf ihrem Gesicht zu verbergen, scheiterte aber kläglich.
»Diana, ist alles in Ordnung?«
»Ja, ja, alles okay«, erwiderte sie. »Nur eine weitere Anfrage. Etwas, das ich nicht erwartet habe, aber wir können bald damit loslegen.«
»Das klingt gut. Ich kann das Equipment ja schon mal vorbereiten und Vanessa Bescheid sagen, dass in Kürze Proben reinkommen. Gibt es denn eine Deadline dafür?«
Dr. Torres wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und ging auf den jungen Mann zu. »Ich bin mir nicht ganz sicher, Charlie. Wir bereiten für alle Fälle einfach alles vor. Aber diese Sache bleibt unter uns beiden, in Ordnung?«
Charlie Furmann nickte, ohne zu zögern. Der Großteil der Projekte des Unternehmens wurde zwar staatlich finanziert, aber den angestellten Wissenschaftlern stand es frei, persönlichen Interessen und Forschungsprojekten nachzugehen, wenn sie die Zeit dazu hatten. Manche dieser Projekte mussten nicht unbedingt an die Öffentlichkeit dringen.
»Ich mache heute Nachmittag alles bereit und lasse Vanessa das Paket raufbringen und vor meine Tür stellen, sobald es ankommt. Das Labor ist morgen Abend ab halb neun bis in die Früh verfügbar. Soll ich es für uns reservieren?«
»Ja, und danke. Ich packe noch eben zusammen und gehe dann nach Hause. Du brauchst nichts aufzuräumen, ich bin ja in aller Frühe wieder da.«
Charlie sagte nichts dazu. Er verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Dr. Torres wandte sich nun wieder ihrem Computer zu und setzte sich hin. Der Bildschirmschoner war bereits wieder aktiviert worden und sie bewegte die Maus.
Sie starrte noch eine Weile auf ihren Bildschirm und las sich die E-Mail wieder und wieder durch.
Kapitel 11
Archäologische Ausgrabung der Universität von Manitoba
Nordwestterritorium, Kanada
Ein Jahr zuvor
Es muss jeden Moment soweit sein, dachte Gareth Winslow. Er hatte sich vor drei Stunden gemeldet, so, wie er angewiesen worden war, gleich nachdem er aus dem kleinen Tagebuch vorgelesen hatte. Dr. Fischer war ziemlich aufgeregt, besonders, weil diese Funde seine Festanstellung bei der Universität garantieren würden.
Er konnte es ja selbst kaum glauben. Eine pudrige Substanz, die Menschen umbrachte? Das war ziemlich spannend. Aber was war es genau? Sporen vielleicht? Das war die ultimative Frage. Aber Dr. Fischer würde nun auf gar keinen Fall noch jemanden in die Nähe der Höhle oder den Rest der ungeöffneten Gefäße lassen. Das war viel zu riskant und abgesehen davon hatten sie überhaupt nicht das richtige Equipment dabei, um eine Feldanalyse des Inhalts anzufertigen.
Dennoch war jeder hier unfassbar neugierig. Mehr als neugierig.
Das Abendessen bestand aus über dem Feuer geröstetem Foliengemüse und die Unterhaltungen am Lagerfeuer in der Mitte ihres Camps drehten sich ausschließlich um zwei Themen. Was war diese Substanz und wie war sie dort hingelangt?
Die Theorien reichten von getrockneten Bestandteilen einer mysteriösen Pflanze, die von den Ureinwohnern für heilig gehalten oder wenigstens für medizinische Zwecke verwendet worden war, bis hin zu ausgefalleneren Attentatsverschwörungen eines Verräters der Romanov-Ära. Selbst Dr. Fischer spielte mit und steuerte eine an den Haaren herbeigezogene Story einer Invasion durch Außerirdische bei, die mithilfe eines kosmischen Elements die gesamte Menschheit zu unterjochen gehofft hatten.
Gareth hörte allen aufmerksam zu und war genauso gespannt wie alle anderen, leistete aber keinen Beitrag zu der zunehmenden Ausgelassenheit der Verschwörungstheoretiker. Er war sich nicht sicher, was in den Behältern war, wusste aber, dass es gar nicht von Belang war.
Es ist nur eine Frage der Zeit, sagte er sich wieder. Sie sollten inzwischen längst hier sein.
Wie aufs Stichwort vernahm er jetzt das ferne Wummern von Helikopterrotoren. Es klang tief und sanft vibrierend und schien eher von seiner Körpermitte auszugehen als von einer Maschine, die noch meilenweit entfernt war. Als das Geräusch irgendwann lauter wurde, wurden einige der Studenten ebenfalls darauf aufmerksam.
»Hey, seid mal kurz leise … könnt ihr das auch hören?«, fragte einer der Studenten. Alle wurden daraufhin still und nur das prasselnde Feuer in ihrer Mitte war noch zu hören.
Ein paar Sekunden darauf sagte jemand: »Ist das ein Hubschrauber? Hier draußen in der Einöde?«
Gareth sah, wie Dr. Fischer angestrengt lauschte – er kann es wahrscheinlich noch nicht hören, dachte Gareth, aber das kommt noch.
Plötzlich riss Dr. Fischer die Augen auf und Gareth stand auf, um seine Rolle zu spielen. »Das ist tatsächlich einer. Seltsam, ich frage mich, wo die hinwollen?«
Gareth entschuldigte sich nun bei der Gruppe und lief zu einem der Fahrzeuge ihrer dreiteiligen Kolonne. Dort öffnete er die Beifahrertür und bückte