Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. Demian Lienhard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Demian Lienhard
Издательство: Bookwire
Серия: Debütromane in der FVA
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783627022709
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überkam mich auch schon die Übelkeit, in diesen kleinen, heimtückischen Wellen, die so heftig sind und so schnell aufeinander folgen, dass sie dir keine Zeit lassen, um zu atmen zwischen ihnen. Ich schnappte nach Luft wie ein Fisch, der unweigerlich ertrinken muss in ihr. Mein ganzer Körper zitterte vor Anstrengung und hatte keine Ruhe, bevor sie mein Magen nicht gab. Meine Mutter musste mir den Kopf halten, damit er nicht aufs Pflaster schlug. Ich habe so viel gekotzt damals und so lange, dass ich Angst hatte, mit der Galle auch noch den Dünndarm zu verlieren und die Nerven.

      Meine Mutter hat mich zum Seelendoktor geschickt damit. Und der so: – Alba hat Angst vor dem Tod. Oder vielleicht ist es ihre Seele, die damit zum Ausdruck bringen will, dass sie etwas verloren hat. Ja. Hundert Franken die Sitzung, und dann das. Vielleicht hast du Cholera. Aber vielleicht ist es auch Krebs.

      Mein Stiefvater hat einmal Fußball gespielt, in Zürich war das, und dann hatte er Blutergüsse am Knie, bunt wie ein Kindergeburtstag sah das aus. Er geht also zum Hausarzt, und der sagt ihm: – Ein Kreuzbandriss ist es nicht. Als die Beschwerden nicht abnehmen, geht er wieder hin. Nochmals: Verband für fünfunddreißig Franken, bisschen Salbe fünfzehn und die Diagnose – kein Kreuzbandriss – achtzig. Nach dem vierten Mal wechselt er den Arzt. Ein Sportmediziner. Der schaut sich zwei Minuten das Knie an und sagt: – Kreuzbandriss, ganz eindeutig. Nächstes Mal kommst du zu mir, habe ich Viktor gesagt, und gibst mir hundert Flöhe die Sitzung. Wenn ich nach dem vierten Mal immer noch danebenliege, kannst du ja immer noch zu einem anderen gehen. So einer war das, dieser Doktor mit der Seele.

      Wir stehen auf dem Parkplatz, Jack und ich, und warten auf die Leute. Wenn tatsächlich so viele kommen, wie Jack gesagt hat, dann dauert das noch eine ganze Weile. Bis jetzt steht da nur eine viel zu pralle Sonne über den Bäumen und ein paar vereinzelte Menschen unter ihnen, die nicht so recht zu einer Gruppe zusammenfinden wollen.

      Ich weiß nicht, wie es um Jack steht, aber ich für meinen Teil habe Hunger. Es ist noch etwas vor der Zeit, in der Jack normalerweise die warmen Fritten unter seinem Poncho hervorholt, aber für ein Softeis oder zwei wäre jetzt ohne weiteres Platz. Ich meine, ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Kein Wunder, dass sich die Erde allmählich zu drehen beginnt um mich. Ich denke an Hugo und wie sehr er mir fehlt in meiner Vene. Und ich denke an den Leichenschmaus.

      Das mit den Begräbnissen war nicht immer so. Das heißt, erst war es nicht so, dann war es so, dann wieder nicht mehr. Als ich klein war, da habe ich mich immer gefreut, wenn es zu einer Beerdigung ging. Ich mochte Erdbestattungen, weil man Blumen hinabwerfen konnte in die Grube und Erdklumpen, wenn keiner hinschaute, sodass sich der Sarg dumpf beschwerte unter mir. Ich mochte die endlosen Pausen zwischen den Gängen des Leichenschmauses, in denen ich mich hinter den Zimmerpflanzen vor niemandem versteckte oder die feinen Zeichnungen auf dem weißen Damasttischtuch mit meiner Ölkreide verschönerte, jedes Feld in einer anderen Farbe, bis es aussah wie ein Perserteppich. Das würde man heute gar nicht mehr sauber kriegen, sagt meine Mutter manchmal, wenn sie sich daran erinnert, und dann sagt sie immer: Aber früher ging das noch, als Waschmittel noch Waschmittel waren und Umweltschutz noch Umweltschutz und der eine dem anderen nicht andauernd in den Kram pfuschte.

      Die Beerdigung von Lea fällt in eine Zeit, in der ich mich bereits wieder freute auf diese Anlässe. Oder sagen wir, ich hatte mich ans Schlechte gewöhnt und gelernt, mich aufs Gute daran zu freuen. Das Gute ist das Essen danach, das man nicht bezahlen muss, und bei dem immer Dinge serviert werden, die ich nicht kenne, Bergseekaviar und kaltes Pferderoastbeef und Straußenfilet mit Preiselbeerkonfitüre und Räucherlachs mit dänischem Meerrettichschaum, weil der Gastgeber sich nicht von der geizigen Seite zeigen will. Ein Unglück, dass ich ausgerechnet das Essen nach Leas Beerdigung verpasst habe.

      Jack trägt einen schwarzen Anzug und die anderen tun es. Sie sind so schwarz, dass der Leichenwagen irgendwie blass aussieht daneben.

      – Für Lea haben sie das getan, sagt Jack.

      Er streicht sich eine Träne aus dem Auge.

      – Was denn?

      – Sich neue Anzüge gekauft.

      Ich schaue mich um. Ich weiß nicht. Vielleicht hat er recht.

      Ich denke: Neue Anzüge für Lea. Und: Absurd. Und: Hätten sie sich auch ein wenig früher entschließen können dazu. Ich weiß, dass sie gemein sind, diese Überlegungen, aber ich weiß auch, dass die anderen nicht besser sind in ihrem Denken.

      Und dann, von einem Moment auf den anderen, gerinnen die blubbernden Gedanken in meinem Kopf plötzlich zu dickflüssiger Marmelade.

      – Jack …, sage ich und: – Ich …, und: – Mein …, und: – Mir ist …

      Ein Wort und dann noch eins und dann noch eins, jedes sehr einzeln und umgeben von nichts und lauter Stille, schwappt über meine Lippen, tropft schwer auf den Asphalt und bleibt dort ungehört liegen. Der Blick, der eben noch auf den Anzügen klebte und den Leuten, die in ihnen stecken, treibt ab nach oben und das wenige Schwarz in ihm findet zusammen zur Nacht.

      Als ich wieder zu mir komme, ist noch immer all dieses Schwarz um mich, aber aus ihm glotzt mich eine ganze Menge Augen an. Jemand ruft nach einer Flasche Wasser oder zwei.

      Mein erster Gedanke: Lea. Lea und das Kleid.

      Jack fragt:

      – Wie geht es dir?

      Ich frage:

      – Wie geht es dem Kleid?

      Jack winkt ab.

      – Alles gut.

      – Es tut mir leid.

      Das tut es mir wirklich. Aber Jack sagt nichts. Er streicht mir die Haare aus dem Gesicht und küsst mich. Dann hilft er mir auf, und eine ganze Menge Hände tun es, nur meine Knie, die tun es nicht. Kaum ist das eine durchgestreckt, gibt das andere nach. Ich fühle mich wie eine dieser traurigen Ölpumpen. Die aus den Filmen, in denen irgendwelche postnuklearen Motorradfahrer auf der Suche nach einer Tankstelle durch den Mittleren Westen knattern.

      Das kann ja heiter werden, denke ich. Da hat die Beerdigung noch nicht einmal angefangen, schon kündigt mein Kopf seinen Vertrag mit der Wirklichkeit auf. Ich schäme mich vor den Leuten, aber ich bin auch froh und ein bisschen stolz. Ich weiß, dass ich das nicht sein sollte, aber: Ich bin Jacks Freundin, und jeder kann es sehen.

      Was niemand sehen kann: Es ist wieder Leben in mir. Seit heute Morgen. Das ist gut so. Dass es wieder in mir ist und dass sie uns dabei nicht gesehen haben. Wäre einer reingeplatzt ins Zimmer, hätte er auch sehen können: Ich bin Jacks Freundin. Oder, wenn er es leise getan und durch den Türspalt geschielt hätte: Gerade noch ist sie nicht Jacks Freundin, und jetzt ist sie Jacks Freundin. Er hätte uns beim Werden beobachten können.

      Oder sie.

      Hilde zum Beispiel.

      Aber die ist im Bild. Sie weiß von mir und sie weiß von Jack, der in meinem Zimmer ist, dabei hat die Besuchszeit noch gar nicht angefangen. Und sie weiß von der Beerdigung seiner Schwester, und dass mich Jack mitnehmen will dahin.

      – Ist alles abgesprochen, sagt er. Und dann, indem er warum auch immer zur Decke zeigt: – Mit den Ärzten. Hilde, allen.

      Ich zögere. Ich schaue Jack an in seinem schwarzen Anzug und dann schaue ich an mir herunter. Ich schaue auf eine fliederfarbene Pyjamahose und ich schaue auf ein hellblaues T-Shirt. Über der linken Brust krallen sich meine Augen fest: Garfield.

      – Können wir noch was holen bei mir zu Hause?

      Jack schiebt seinen Ärmel zurück und schaut auf sein Handgelenk, wo eine silberne Uhr mit Datumsanzeige, Mondphasen, schlangenledernem Armband und dem ganzen Schnickschnack fehlt. Er überlegt. Dann schaut er mich an und sagt, indem er auf das ausgedachte Zifferblatt tippt:

      – Okay. Aber schnell.

      – Gut, sage ich.

      Doch dann kommt mir in den Sinn: Das geht ja gar nicht. Auf keinen Fall geht das. Mein Zimmer, muss man dazu sagen. Also, seit dem Unfall bin ich nicht mehr in ihm gewesen.

      Ich meine: