Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. Demian Lienhard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Demian Lienhard
Издательство: Bookwire
Серия: Debütromane in der FVA
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783627022709
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Wieder will ich etwas sagen. Ich tue es nicht.

      Dann sehe ich Eulalia an. Unsere Blicke treffen sich. Ich schaue an ihr herunter, und sie tut es. Beide starren wir auf ihre Arme, die so zufällig vor ihr auf dem Tisch drapiert sind, als hätten sie überhaupt nichts zu tun mit dem Körper, vor dem sie liegen.

      Sie räuspert sich.

      – Meiner auch, sagt sie. – Splitterbruch. Auf beiden Seiten. Stell dir vor.

      Wenn man sich Freunde machen will, habe ich in einer der Frauenzeitschriften gelesen, die hier an jeder Ecke herumliegen, soll man die Leute ausquetschen wie eine Zitrone und man soll sie nicht ausquetschen wie eine Zitrone. Wenn es ums Geld geht, ist Zurückhaltung angesagt, hieß es da, aber nach ihrer Geschichte könne man die Leute gar nicht oft genug fragen.

      Zwar weiß ich nicht, ob ich auf eine neue Freundschaft aus bin in diesem Moment, dafür ist mir umso klarer, dass ich nicht die geringste Lust verspüre, Eulalia von meinem Unfall zu erzählen. Und um das zu verhindern, eignen sich die Ratschläge aus diesen Zeitschriften mindestens genauso gut. Also setze ich für eine Weile die nachdenklichste Miene auf, die sich nur finden lässt in meinem Repertoire, und sage: – Aha, und: – Splitterbruch, und: – Uff. Und dann frage ich sie, wie das passiert sei und wo und wann genau und wer denn dabei gewesen sei und was man halt so fragt, wenn man nicht will, dass der andere wieder herausfindet aus seinem Erzählen. Und als mir langsam die Fragewörter ausgehen, schwenke ich über auf andere Themen, ich frage sie nach Klassenkameradinnen, Lehrern und Wahlfächern, Geschwistern, Haustieren und der Anzahl der Großeltern, die noch leben, aber irgendwann senkt sich wieder ein Schweigen zwischen uns.

      Aber wenn ich nicht in die Cafeteria gekommen bin, um mich über meinen Unfall ausfragen zu lassen, dann schon gar nicht, um eine ganze Weile vor mich hinzuschweigen und den anderen beim Essen zuzuschauen: Wenn ich etwas am Zoo verabscheue, dann ist es genau das. Einen Tag nichts Rechtes zwischen die Zähne zu kriegen und hinter Gittern stehend irgendwelchen Tieren mit viel zu gescheckten Fellen dabei zuzusehen, wie sie sich jede Menge köstlicher Huftsteaks und Lachs und Thunfisch in den Rachen stopfen, wofür du auch noch bezahlt hast mit deinem Eintrittsgeld.

      – Warum isst du nichts?, frage ich.

      – Essen ist mir nicht so wichtig.

      Unweigerlich schiebe ich meinen Kopf nach vorn, biege die Rechte zur Muschel und halte sie mir ans Ohr, wie Jack es tut, wenn er dir nicht direkt ins Gesicht sagen will, dass du lauter Schmu erzählst und deswegen so tut, als hätte er sich verhört. Andere Leute würden einfach fragen: Wie bitte? Aber deshalb sind die anderen Leute eben nicht Jack, sondern die anderen Leute, und deswegen mag ich ihn so gerne und die anderen Leute eben nicht.

      Aber noch bevor ich etwas hinzusetzen kann, gibt Eulalia mit einem mehr als deutlichen Kopfnicken zu verstehen: Du hast schon richtig gehört.

      Ich bin entsetzt. Geradeso gut hätte sie mir erzählen können, dass ihr das Atmen nicht so wichtig sei.

      Ich meine, das Essen. Ich würde sagen, es ist für mich das, was man Lieblingsbeschäftigung nennt. Aber ernster. Ich verstehe die Leute nicht, die die Intelligenz der Mäuse in Frage stellen oder der Ratten, die wegen eines Stückchens Speck in die Falle gehen. Oder vielmehr: Die Leute verstehen die Mäuse nicht. Es geht hier nicht um Intelligenz. Es geht darum, dass es Dinge gibt, die man fürs Leben gern tut. Und wenn’s der Speck ist oder der Käse, der dich voll und ganz ausfüllt von innen, dann spielt es überhaupt keine Rolle, wenn du im Gegenzug etwas früher aus dem Programm genommen wirst.

      Ich denke, diese Vorliebe fürs Essen liegt in der Familie. Meine Mutter, muss man wissen, ist ein Kriegskind, und ich, ich bin so was wie eine Kriegsenkelin. Im Krieg, oder in diesem sonderbaren Zustand von Frieden inmitten eines zerbombten Europas, den hier alle Krieg nennen, gab es nichts zu essen. Wenn trotzdem einmal eine Kuh geschlachtet wurde, weil sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, musste alles aufgegessen werden, auch wenn es so viel auf einmal war, dass bald keiner mehr konnte.

      Fett und Öl und Zucker. Sie sind in meinen Lieblingsspeisen zuhauf enthalten. Und deswegen komme ich so gerne in die Cafeteria. Wenn die in der Krankenhausküche immer nur diese geschmacklose Rohkost zubereiten, dann ist es in der Cafeteria das genaue Gegenteil. Warum das so ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Manche Leute hier glauben zu wissen, es sei einfach billiger, weil man schlechtere Zutaten verwenden könne, deren mieser Geschmack unter einer knusprigen Haube aus Frittenfett versteckt werde. Ich bin der Ansicht, dass da ein ausgeklügeltes Geschäftsmodell dahintersteckt. Dass die Patienten hier auf etwas anderes Lust haben als auf gedämpften Kohlrabi, ist schließlich ein offenes Geheimnis.

      Das Seltsame an der ganzen Sache mit dem Fett und dem Öl und dem Zucker ist nur: Wie viel ich auch esse, ich werde nicht dick davon. Auch das ist ererbt, wenn man meiner Großmutter glauben darf. – Und leider ist es das Einzige, sagte meine Mutter, als die Bestatter den Sarg in den Leichenwagen schoben, und wischte sich eine Träne aus dem Auge.

      Aber vielleicht gibt es ja andere Dinge, die Eulalia mag, und alles ist halb so schlimm. Und deswegen stelle ich ihr eine zweite Frage, die, wie ich meine, ein ziemlich faires Angebot ist, mit einer einigermaßen befriedigenden Antwort den Schlamassel wiedergutzumachen, den sie gerade angerichtet hat.

      – Und Kaffee?, frage ich.

      – Auch nicht.

      Eulalia. Eine Freundin wie sie habe ich noch nie gehabt zuvor. Eulalia traf im Krankenhaus mit einem blutroten Mund und vier Taschen ein, wovon eine allein für diese halbdurchsichtigen Seidenfantasien vorgesehen ist, die sie zum Schlafen anzieht. Ihre braunen Haare trägt sie schwarz und meistens hochgesteckt, die braunen Augen sind immer geschminkt und die Wangen sind es. Weiß man dazu, dass sie nicht will, dass man ihr für ein neues Gericht den Teller wechselt, wird einem auch klar, woher sie kommt, die Eulalia. Eitelkeit und Bescheidenheit: Das sind die Eigenschaften, die nur deshalb zusammenpassen, weil sie aus einer dieser Villen am Schlossberg stammt und die Bescheidenheit eigentlich falsch ist. Trotzdem, ich mag Eulalia. Sie weiß, was sie tut, und sie ist nie um einen Spruch verlegen oder zwei. Sie macht, würde ich sagen, dass ich mich schlagfertiger fühle und weniger einsam.

      Anfangs habe ich geglaubt, Eulalia esse nicht viel, weil sie abnehmen will. Viele Mädchen in meinem Alter wollen abnehmen, die wesentlich schlanker sind als sie. Aber Eulalia will das nicht, im Gegenteil. Sie gehört zu der Sorte Frau, die schon früh erkannt hat, dass es viel zu viele Typen da draußen gibt, die auf so was stehen, als dass sie sich schämen müsste dafür. Und die zudem weiß, wie sie es anstellen muss, dass auch die Typen darauf stehen, die es eigentlich gar nicht tun.

      Ich glaube, dass das eines meiner Probleme war.

      – Magst du was haben?

      Ich weiß nicht, warum ich das vorschlage. Vielleicht weil ich das Gefühl habe, dass ich, wenn ich den ersten Ratschlag aus der Zeitschrift ernst nehme, auch den zweiten beherzigen muss. Ich bin ja schließlich keine dieser Katholinnen, die zwar nicht verhüten wollen, aber dann doch wieder zweimal im Jahr in irgendeinen düsteren Hinterhof rennen müssen, und das noch vor der Ehe.

      Vielleicht habe ich aber auch einfach nur Hunger und will mir endlich was holen.

      – Ich weiß nicht so recht.

      – Ich geb’ dir was aus.

      – Na wenn du meinst …

      – Klar doch. Was willst du?

      – Hm, was gibt’s denn so?

      Und schon wendet sich das Blatt. Ich weiß nicht. Eulalias Ratlosigkeit. Das löst etwas aus bei mir. Eben noch: Mein … Unfall. Und plötzlich fühle ich mich unanfechtbar wie der Kronprinz. Es ist ein wenig wie am Morgen in der Schule: Ich ertrage ihn einfach nicht. Aber wenn ich jemand anderes sehe, wie er leidet und schlecht gelaunt ist und auf seine Tasse Kaffee herabschweigt, hast du keinen Menschen gesehen, der aufgestellter ist als ich.

      – Alles.

      Meine Rechte deutet auf die Kaffeemaschine, die Essensausgabe und die Plexiglasscheiben mit dem Gebäck dahinter.

      Eulalia schaut mich an. Ihr Blick senkt sich