„Nein, warten wir erst mal ab. Ich wollte nur einfach nicht allein sein.“ Sie seufzt und stöhnt tief auf, ihr Gesicht ist verzerrt und sehr blass.
Jetzt sage bitte niemand, das sei alles nur ein cleverer Trick, um mich in ihre Wohnung zu locken. Wenn sie mich jetzt fragt, ob ich eine Tasse Tee möchte oder einen Teller Suppe, weiß ich nicht, was …
Sie stöhnt wieder und ich sehe, dass sie wirklich Schmerzen hat. Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen wegen meines mangelnden Mitgefühls.
„Haben Sie Schmerzen in der Brust? Ist der Arm taub?“ Ich schiebe meine Hand unter ihre. Wenn sie Ja sagt, werde ich den Notarzt belästigen.
„Es ist kein Herzinfarkt“, sagt sie. „Könnten Sie mir ein Glas Wasser holen?“
Ich spurte in die Küche und schicke ein Stoßgebet zum Himmel. Ich weiß zwar nicht, was genau ich für meine kranke Nachbarin tun soll, aber es tut mir gut, mich auf jemand anderen zu konzentrieren als auf mich selbst.
Mrs Woodwards Hand zittert, als sie das Glas greift, und ich helfe ihr dabei, einen Schluck zu nehmen.
„Lassen Sie mich den Notarzt rufen“, bitte ich.
„Nein. Es geht immer wieder vorbei.“
„Dann haben Sie solche Anfälle schon öfter gehabt?“ Ich nehme das Glas und stelle es auf ein Deckchen. „Was meint Ihr Arzt dazu?“
„Ich habe ihm nichts davon gesagt.“
„Mrs Woodward, es könnte etwas Ernstes sein“, predige ich.
Krampfhaft versuche ich mich zu erinnern, welche Organe über dem Magen und im unteren Brustkorb liegen. Ich habe keine Ahnung. Die hundertsiebzig Dollar für den Anatomiekurs an der Uni waren wirklich rausgeschmissenes Geld.
Ich sitze ein Weilchen einfach ruhig da und halte Mrs Woodwards Hand. Ich werde schläfrig und kann nicht umhin, daran zu denken, wie schnell es vier Uhr morgens sein wird. Dann höre ich, dass die alte Dame ruhig und gleichmäßig atmet.
„Mrs Woodward?“ Ich streiche ihr sanft über den Arm.
Sie ist eingeschlafen. Ich stehe vorsichtig auf, ohne sie zu stören, und greife nach der Wolldecke, die über der Sofalehne liegt. Damit decke ich Mrs Woodward zu und mache die Lampen aus – bis auf eine, für den Fall, dass sie aufwacht und ins Bett gehen möchte.
Nachdem ich den Schnappriegel in der Tür auf Verschluss geschoben habe, gehe ich zurück zu meiner Wohnung. Die unerwartete Begegnung mit Mrs Woodward hat bei mir Spuren hinterlassen. Eine dunkle, regnerische Nacht, eine ältere Dame ganz allein in ihrer Wohnung und offensichtlich mit Schmerzen. Ich hätte auch bei mir angerufen.
Das letzte Mal, dass ich Besuch bei ihr gesehen habe, war … hmm, also, merkwürdig – ich habe noch nie Besuch bei ihr gesehen. Ich weiß nicht mal, ob sie Kinder oder Enkelkinder hat. Ich habe auch keine Fotos an der Wand gesehen oder auf dem Kaminsims.
„Hey, Becca.“
„Wer ist da?“ Vor Schreck springe ich zwischen die verwilderten Zwergpalmen vor dem Haus. Mein Flauschpantoffel tritt in einen Haufen Kiefernzapfen.
„Becca, ich bin’s, Chris.“
Ich spähe durch die Palmblätter, ob er es wirklich ist. Eine Frau kann nicht vorsichtig genug sein. Bingo, er ist es, der Miesling.
„Was machst du hier?“ Ich komme hinter den Palmen hervor. Ein Hausschuh bleibt stecken. Ich bücke mich, um ihn aufzuheben, während ich auf einem Bein balanciere.
„Was machst du da?“, fragt Chris.
„Ich hab zuerst gefragt.“ Ich wringe den klatschnassen Hausschuh aus und steuere auf dem kürzesten Weg auf meine Wohnung zu, einen Hausschuh in der Hand, den anderen am Fuß. Mein Morgenmantel bläht sich hinter mir wie ein Cape.
„Ich möchte mit dir reden.“ Er folgt mir.
„Mitten in der Nacht?“ Dieser Tag will einfach nicht aufhören. Er dehnt sich schon bis morgen aus, was genauer gesagt bereits heute ist.
„Ich konnte nicht schlafen.“ Chris ist jetzt direkt hinter mir und ich erschnuppere einen Hauch Versace Blue Jeans. Den Duft habe ich geliebt – bis heute. Bis zu diesem Moment.
„Ach, hast du ein schlechtes Gewissen? Mieser Betrüger.“ Ich will ihn vor der Haustür stehen lassen. Soll er doch in seinen Schuldgefühlen schmoren, ich werde ihm die Tür vor der Nase zuknallen. Ich drehe am Türknauf, aber die Tür öffnet sich nicht. Ich versuche es noch einmal.
N-e-e-i-i-n. Ich habe mich ausgesperrt – mein Schlüsselbund liegt noch drüben bei Mrs Woodward.
Geschlagen mit meinen eigenen Waffen. Mit dem durchweichten Hausschuh hämmere ich an die Tür. „Ich … glaub … es … nicht …“
Verzweifelt lehne ich meinen Kopf gegen die kalte Hauswand. Wieso passiert mir das alles? Welche kosmischen Mächte haben sich verschworen, Rebecca Ilene Moore in eine derartige Klemme zu manövrieren – ohne das allerkleinste Handwerkszeug, um sich wieder daraus zu befreien?
Chris legt mir die Hand auf die Schulter. „Alles okay?“
Lachen? Heulen? Lachen? Heulen? Auf Chris eindreschen? Das wär’s. Wenigstens ein guter Schlag. Stattdessen fange ich an zu lachen.
„Becca, was ist los?“ Er rüttelt mich an der Schulter. „Hör auf zu lachen.“
„Ich hab mich ausgesperrt.“
„Und das findest du lustig?“
Im kalten Licht der Eingangslampe knirsche ich mit den Zähnen und sage: „Nein, das ist überhaupt nicht lustig. Ich hab nur für heute keine Tränen mehr übrig.“
Uups, das war etwas zu ehrlich. Meine Augen werden schon wieder feucht.
Ohne ein Wort zückt Chris seinen Schlüsselbund und schließt die Haustür auf. Ich hatte ganz vergessen, dass ich ihm letzten Monat einen Schlüssel gegeben hatte, für alle Fälle. Und jetzt, nachdem er mein Herz zerquetscht hat wie eine lästige Mücke, rettet er mich. – Wenn das keine Ironie des Schicksals ist!
„Was ist so wichtig, dass du um ein Uhr morgens hier angeschlichen kommst?“, will ich wissen, sobald wir in der Wohnung sind. Ich schleudere den Hausschuh Richtung Waschmaschine und sinke dann in meinen Sessel.
„Es tut mir so leid wegen heute Mittag. Ich hab versucht, dich anzurufen, aber du bist nicht drangegangen.“ Er lungert in der Wohnzimmertür herum.
„Ich hatte einen langen Tag.“ Ich vermeide es, ihm in die Augen zu sehen.
„Becca, es tut mir leid. Die Sache mit dem Restaurant und mit Kate.“
Mit einem Luftkick schleudere ich den anderen Hausschuh vom Fuß. Meine Zehen sind ganz flusig. Ich konzentriere mich darauf, meine Füße zu entfusseln, als sei das wesentlich wichtiger als alles, was Chris zu kommunizieren versucht.
„Ich wollte nicht, dass das passiert. Kate rief vor ein paar Wochen an. Wir sind zusammen ausgegangen. Dann führte eins zum anderen …“
„Liebst du sie?“
Er zögert.
Das ist der eindeutige Beweis.
„Verstehe.“ Mein Mund ist ganz trocken, mein Magen ein einziger Knoten und auf einmal ist es nicht mehr so wichtig, meine Füße zu entflusen.
„Ich weiß, was zwischen uns lief, war wirklich was Gutes. Diese Sache hat mich einfach überrumpelt.“
„Chris, bist du Christ?“ Auf einmal will ich es wissen.
Er windet sich. „Na ja, das kommt drauf an, was du darunter verstehst. Ich glaube bestimmte Dinge.“
Das reicht. „Schlüssel, bitte.“ Ich stehe auf und strecke die Hand aus.
„Was?“