Ich verschlucke mich fast an den Pommes. „Mom, wie kann eine Frau mit neunundfünfzig Jahren noch genauso viel wiegen wie mit zweiundzwanzig?“ Gibt es da nicht ein Naturgesetz, das das verhindert?
„Ich weiß nicht, wie sie das macht, aber es stimmt.“ Dad zwinkert mir zu. „Es schwankt höchstens mal um ein oder zwei Pfund.“
„Oder fünf oder zehn“, sage ich und widme mich wieder meinem Essen. Es schmeckt wunderbar. Peter Miller hätte mich am liebsten an meinen Stuhl gekettet, damit seine E-Commerce-Deadline eingehalten werden konnte. Ich habe mein Frühstück, Mittag- und Abendessen aus dem Automaten gezogen. Bis zum nächsten Jahrhundert will ich keine Knusperbrezelpackung mehr sehen. Und danach vielleicht auch noch nicht.
„Wie kommt’s, dass du in Beauty bist?“ Dad schiebt den Salat zur Seite und stellt die kritische Frage.
Ich nippe an meinem Wasser. „Nichts Besonderes. Ich hatte in Atlanta zu tun. Und da war es nicht mehr weit …“
„Becca, was ist los? Deine Augen …“ Mom schnappt mich am Kinn und dreht meinen Kopf zu sich.
„Mom.“ Ich befreie mich aus ihrem sanften Griff. „Ich bin nur müde, das ist alles. War eine lange Woche.“ Mütter. Hören sie jemals auf, einen zu durchschauen?
„Seit wann bist du denn wieder im Reisedienst?“ Dad lässt sich nichts vormachen und jetzt hakt er nach.
„Oh, jetzt war ich’s schon eine ganze Weile nicht mehr.“ Ich ringe mir ein Lächeln ab.
„Und wie geht’s Chris?“, fragt Mom und schiebt sich eine Gabel Salat und Tomaten in den Mund, wobei sie sich ihre roten Ponyfransen aus den Augen streicht.
„Alles bestens.“ Zumindest wenn man Schmeißfliegen mag.
Sie haben keine Ahnung. Aber ihre Fragen enthüllen, wie sehr ich mich als Versager fühle. Das Wort blinkt in meinem Gehirn wie eine schäbige Neonlichtreklame.
Versager! Versager! Versager! Seufz.
Kapitel 6
„Becca, du hast geseufzt.“ Moms Radar scannt töchterliches Territorium und registriert deutlich zu viel Aktivität.
Stummer Seufzer. „Ich bin nur müde.“
Eigentlich möchte ich ihnen sagen, was los ist. Wirklich. Aber ich kann nicht. Wie bringt man seinen Eltern bei, dass man seine Karriere vermasselt hat und noch nicht mal weiß, warum? Und dass die einzige längere Beziehung, die man seit ewigen Zeiten zustande gebracht hat, damit geendet hat, dass der Mann in den Armen einer anderen gelandet ist? Und dass er ohnehin nur zweite Wahl war?
Soll ich sagen: „Ihr habt eine Idiotin großgezogen“? Nein, das ist nicht das, was sie hören wollen. Und nicht das, was ich sagen will.
„Josh und Suzanne werden sich freuen, dich zu sehen.“ Mom spinnt den Gesprächsfaden mit leicht dahingeworfenen Sätzen immer wieder weiter.
„Was machen sie so?“ Josh ist mein jüngerer Bruder. Fünf Jahre jünger, um genau zu sein, und Suzanne ist seine beste Freundin und seine Frau.
„Suzy schließt demnächst ihre Abendschule ab und Josh ist in die Firma ihres Vaters eingestiegen.“
„O super“, sage ich.
„Bei Regis kann er eine feine Karriere als Vermessungsingenieur machen.“ Dad tut cool, aber ich weiß, er ist enttäuscht, dass Josh nicht von Saucen und Marinaden leben möchte.
„Wir haben dieses Jahr unser fünfzehnjähriges Klassentreffen“, werfe ich ein, weil ich sonst auch nicht viel anzubieten habe. Ich fische in meinem Glas nach einem Eiswürfel und lasse unerwähnt, dass ich vielleicht gar nicht zum Klassentreffen fahren werde.
„Wunderbar. Chris wird all deine Freunde kennenlernen.“
Okay, jetzt ist klar: Mom weiß, dass was nicht stimmt, weiß aber nicht, wie sie es aus mir herausbekommen soll. Sie klopft den Putz von der Mauer in der Hoffnung, den Riss zu entdecken.
„Vielleicht.“ Ich weigere mich einzuknicken und zerkaue meinen Eiswürfel.
Das Gespräch nimmt einen Umweg über die Landstraße. Wir reden ungezwungen über das Leben im Allgemeinen und ich vermeide Details über mein Leben in Melbourne, Florida.
Dad übernimmt die Rechnung, lässt ein saftiges Trinkgeld für Sarah Beth auf dem Tisch und winkt Freda zu. In Beauty kennt jeder jeden.
Zu Hause trägt Dad meinen Koffer in mein altes Zimmer. Es sieht noch genauso aus wie an dem Tag, als ich ins College gegangen bin, wie an dem Tag, an dem ich vom College zurückkam, und wie an dem Tag, an dem ich nach Florida zog.
Ich lasse mich aufs Bett fallen, schließe die Augen und tue so, als sei ich sechzehn und die Welt noch immer meine Muschel.
„Und wie fühlt sich das alte Zimmer an?“
Ich hebe den Kopf und sehe, dass Dad noch in der Tür steht.
„Friedlich.“
Er lächelt. „Du konntest es gar nicht schnell genug hinter dir lassen, wenn ich mich recht erinnere.“
„Ich hab mich hier so eingeengt gefühlt, aber ich hatte auch noch nie was anderes kennengelernt als Nord- und Süd-Georgia.“ Ich starre die Decke an, während ich laut in Erinnerungen schwelge.
„Ich hatte dir gerade die Grundbegriffe des Saucengeschäfts beigebracht und dann rief Lucy an und hat dir von der Anzeige bei Casper & Company erzählt.“
„Ich bin nach Hause gerannt und hab meine Sachen gepackt.“
Dad schiebt sein Kinn vor. „Mitten in meinem fesselnden Vortrag darüber, wie wir die Saucen abfüllen.“
Ich hebe den Kopf. „Oh, tut mir leid.“
Er lacht und schenkt mir diesen Du-kannst-mir-doch-nichts-vormachen-Blick. Ich schlinge die Arme um eines der vielen Kissen auf meinem Bett. „Hat doch bestens funktioniert, oder?“ Bis jetzt. Aber diese Worte verschweige ich lieber.
„Ja, das hat es.“
Dad spaziert ins Zimmer und setzt sich rittlings auf meinen Schreibtischstuhl. „Möchtest du mir sagen, was los ist?“
„Nichts ist los.“ Ich rutsche hoch bis zum Kopfende und verschwinde unter dem Kissen. War das eine Lüge? Ich will nicht lügen.
Mein Schicksal ist besiegelt, so viel ist klar. Wenn Mom weiter so fixiert ist auf das Thema Chris und Dad mich weiter mit Fragen nach Casper & Co. ausspioniert, knicke ich ein.
Dad trommelt mit den Fingern auf die Stuhllehne. „Ich sehe dich immer noch vor mir, wie du mit deinen, na, fünf oder sechs Koffern die Treppe runterstürmst, ganz versessen darauf, nach Florida zu kommen.“ Er legt die Hände ineinander. „Rrrumms.“
Die Vorstellung, im reifen Alter von dreiundzwanzig von zu Hause zu fliehen, klingt in der Tat albern. Aber ich weiß noch genau, wie verzweifelt ich dieses Beauty hinter mir lassen wollte – raus aus dem Schatten meiner Familie und der unendlichen Geschichte von meinem Weihnachtssolo in der dritten Klasse.
Dad betrachtet mich einen Augenblick. „Mrs Riley spricht immer noch von deinem Solo. Sie behauptet steif und fest, dass es nie wieder jemanden wie dich gegeben hat.“
Kann er Gedanken lesen? „Ja, ich war anders als alle anderen.“ Wieso erinnert sie sich an diesen Abend? Wenn ich Scrooge wäre, wäre Mrs Riley der Geist der Vergangenheit, der mich zu Weihnachten heimsucht.
Schau mal, Rebecca Moore, sieh hin. Das bist du, wie du dein Weihnachtssolo singst. ,Im Stall in der Krippe‘. Nein, was für ein entzückendes Kind.
Ich schüttele das Bild ab. Es macht mich krank. Ich habe eine volle Viertelstunde