Dietmar Grieser für Kenner. Dietmar Grieser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietmar Grieser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903083974
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Namen zu vermarkten …

      War es nicht schon schwierig genug, überhaupt zu klären, wo dieses Neudorf, aus dem Franz Schuberts Vater stammt, zu finden ist? Einer, der sich dafür brennend interessiert, ist um 1900 der Wiener Komponist Richard Heuberger, der gerade mit großem Erfolg seine Operette »Opernball« herausgebracht hat. Leiter des Akademischen Gesangvereins, Lehrer am Wiener Konservatorium und Nachfolger des berühmten Eduard Hanslick als Musikkritiker der »Neuen Freien Presse«, ist Heuberger ein leidenschaftlicher Bewunderer Schuberts, studiert sämtliche erreichbare Literatur über sein Vorbild. Heinrich Kreissle von Hellborns Biographie ist zu dieser Zeit das letztgültige Standardwerk. Doch es weist Lücken auf. Die einzige Auskunft, die der Autor bezüglich Schuberts Abstammung erteilt, lautet: »Sein Vater war der Sohn eines Bauern und Ortsrichters in Mährisch Neudorf.« Heuberger will es genauer wissen: Einen Ort dieses Namens gibt es nicht weniger als 35 Mal! Welcher der 35 ist der richtige?

      Es wird ein hartes Stück Arbeit. Zuerst einmal gilt es, all die vielen über Mähren verteilten Neudorf zu »orten«, ihre jeweilige pfarramtliche Zugehörigkeit zu klären und schließlich die einzelnen Postadressen zu eruieren. Sodann schreibt er eine Pfarrkanzlei nach der anderen an – »per Korrespondenzkarte mit angebogener, an mich rückadressierter Antwortkarte«. Das Unternehmen verläuft mühsam: Während die einen nach erfolgter Überprüfung der Taufregister mit – wie nicht anders zu erwarten – negativem Bescheid reagieren, bleiben etliche andere stumm: Es handelt sich um Vorsteher tschechischer Pfarrgemeinden, die es brüsk ablehnen, eine in deutscher Sprache abgefaßte Anfrage zu bearbeiten, ja zum Teil sogar die Annahme des Poststücks verweigern. Zum Glück ist der gesuchte Ort eine deutschsprachige Gemeinde, und so gelangt Richard Heuberger schließlich doch ans Ziel; Pfarradministrator Raphael Riml antwortet ihm am 22. August 1900:

      »Euer Wohlgeboren! Carl Schubert, Bauer in Neudorf, Pfarre Hohenseibersdorf, ist gestorben 24. Dezember 1787 am Durchbruch des Leibes. Dessen Sohn Franz Theodor wurde geboren 11. Juli 1763 in Neudorf. Nachkommen dieser Familie leben bis jetzt in Neudorf. Zu weiteren Diensten stets bereit …«

      Die »weiteren Dienste« erübrigen sich: Franz Schuberts Abstammung aus Mährisch Neudorf, Gerichtsbezirk Altstadt, Bezirkshauptmannschaft Mährisch Schönberg, ist ein für allemal geklärt.

      Geklärt ist übrigens auch die Herkunft der Mutter. Ebenso wie der Vater ist diese Elisabeth Katharina Vietz keine Wienerin von Geblüt, sondern stammt aus dem mährischen Teil Schlesiens. Und obwohl ihr Geburtsort Zuckmantel von Vater Schuberts Geburtsort Neudorf nur 30 Kilometer entfernt ist, lernen die beiden Landsleute einander nicht in der gemeinsamen Heimat, sondern in Wien kennen. Doch davon später.

      Ist Franz Theodor Schubert im bäuerlichen Milieu aufgewachsen, so gehören die Vietz dem Handwerkerstand an: Der Vater ist Schlossermeister und Büchsenmacher. Daß er 1772 – da ist Tochter Elisabeth Katharina ein Mädchen von knapp sechzehn – nach Wien »auswandert«, hat zwei Gründe: Erstens ist durch die Verheerungen der Schlesischen Kriege die Grenzregion am Nordrand des Habsburgerreiches verarmt, und zweitens hat sich Johann Vietz als Vorsteher seiner Gilde an deren Kasse vergriffen und ist in Schande geraten. Sein Plan, in der Reichshaupt- und Residenzstadt unterzutauchen und dort für sich und die Seinen eine neue Existenz aufzubauen, bedeutet also Flucht. Doch sein Plan schlägt fehl: Schon vor der Übersiedlung schwerkrank, stirbt Johann Vietz wenige Stunden nach seiner Ankunft im Wirtshaus zum Goldenen Lamm in der Naglergasse, wo er mit den drei Kindern Quartier bezogen hat. Noch schlimmer das Los seiner Frau: Sie ist schon unterwegs verschieden. Zum Glück finden die drei Vollwaisen in Wien Arbeit: Sohn Felix verdingt sich als Webergeselle, die Töchter Elisabeth Katharina und Maria Magdalena bringen sich als Köchin bzw. Hausmagd durch.

      An Elisabeth Katharina, die 24 Jahre später die Mutter des Musikgenies Franz Schubert werden wird, erinnert in ihrem Geburtsort Zuckmantel eine Gedenktafel, die übrigens in besserem Zustand ist als das dazugehörige Haus: Hauptstraße 51. Außerdem hat man vor einiger Zeit eine dringend nötige Korrektur vorgenommen: Die schöne Plakette mit dem neobiedermeierlichen Dekor hing jahrelang am falschen Haus.

      Das lebhafte Kleinstädtchen, das heute Zlaté Hory heißt, ist auch sonst reich an Überraschungen: Beim Schlendern durch die alten Gassen höre ich aus einem der neueren Gebäude kräftiges Klavierspiel. Es ist ein merkwürdiges Klanggemisch, muß wohl aus mehreren Räumen kommen. Ich verlangsame also meinen Schritt, um dem Phänomen auf den Grund zu gehen. Die Tafel am Hauseingang bringt die erhoffte Erklärung: Es ist die örtliche Musikschule. Und nach wem ist sie benannt? Nach Franz Schubert. Zur Zeit meines Aufenthalts ist gerade ein internationaler Klavierkurs im Gange.

      Auch wer in Zuckmantel »nur« in Sachen Schubert unterwegs ist, wird nicht versäumen, einen Abstecher zu jenem Sanatorium Edelstein zu machen, das sich in luftiger Höhe auf einem der bewaldeten Hänge am Ortsrand erhebt. Heute ein Kinderheim, ist es 1905 eine jener Lungenheilstätten, in denen der zweiundzwanzigjährige Franz Kafka Linderung seines vor kurzem ausgebrochenen Tbc-Leidens sucht.

      Auch die Weiterfahrt durch die nähere Umgebung von Zuckmantel, zu der ich mich entschließe, lohnt sich: In Freiwaldau stoße ich auf Spuren des »Wasserdoktors« Vinzenz Prießnitz, der hier, ursprünglich ein einfacher Bauer, lange vor Kneipp die heilende Kraft kalten Quellwassers entdeckt hat; im Schloß Johannesberg bei Jauernig, einst die Sommerresidenz der Breslauer Bischöfe, hat der in Wien geborene Carl Ditters von Dittersdorf viele Jahre als Hofkomponist gewirkt; und in Reihwiesen, dem höchstgelegenen Ort im ehemaligen Österreichisch-Schlesien, kann man noch heute einen Teil jener rund 300 Sessel bestaunen, die der Herbergswirt Alfred Brauner, nebenbei ein virtuoser Holzschnitzer, für seine Stammgäste angefertigt und mit deren Porträt versehen hat. In dem florierenden Wandererparadies mit den idyllischen Waldwegen und den gemütlichen Blockhäusern sind auch Gäste aus unseren Breiten willkommen: »Hier schlafen Sie gut!« verkündet eines der deutschsprachigen Reklameschilder.

      Zurück zu Franz Schubert. Seit 1772 ist seine spätere Mutter, die Dienstmagd Elisabeth Katharina Vietz, in Wien ansässig, seit 1783 der Schulgehilfe Franz Theodor Schubert, dem sein älterer Bruder eine Stelle als Hilfslehrer an der Karmeliterschule verschafft hat. 1784 lernen die Achtundzwanzigjährige und der sechs Jahre Jüngere einander in der Wiener Vorstadt Lichtenthal kennen, im Jahr darauf wird geheiratet. Franz Theodor, wohl der geborene Pädagoge, kann sich schon bald verbessern und wird zum ordentlichen Schullehrer am Himmelpfortgrund ernannt; Elisabeth Katharina bringt im Haus zum Roten Krebsen, das sowohl Schule wie Wohnung beherbergt, nicht weniger als vierzehn Kinder zur Welt, von denen freilich nur fünf das Erwachsenenalter erreichen. Das vorletzte, wieder ein Bub, wird am 31. Jänner 1797 geboren und am Tag darauf in der Pfarrkirche zu den vierzehn Nothelfern auf die Namen Franz Seraph Peter getauft. Es ist unser aller Franz Schubert.

      Aus: Die böhmische Großmutter, 2005

      »Aufhören, das ist ja furchtbar!«

      Der Grabstein aus schwarzem Granit überragt an Höhe alle seine Nachbarn, und die vor kurzem erneuerte Silberschrift bezeugt, daß auch in punkto Instandhaltung und Pflege mustergültig vorgesorgt ist. Ich stehe vor der letzten Ruhestätte von Bernard und Marie Mahler auf dem jüdischen Friedhof von Iglau, die Gustav Mahler in jenem Unglücksjahr 1889 hat errichten lassen, in dem er dicht hintereinander Vater, Mutter und Schwester Leopoldine verloren hat. Auch an einer Reihe weiterer Gräber kehrt der Familienname des zu dieser Zeit Neunundzwanzigjährigen wieder, der seit einigen Monaten Direktor der königlich-ungarischen Oper in Budapest ist und in wenigen Tagen die Uraufführung seiner Ersten Symphonie erleben wird.

      Friedhöfe gleichen aufgeschlagenen Geschichtsbüchern: Mein Rundgang über den jüdischen und den gleich nebenan befindlichen Zentralfriedhof von Iglau erinnert mich auf Schritt und Tritt an all die vielen anderen Berühmtheiten aus dem alten Österreich, die in und um Gustav Mahlers Kindheitsstadt ihre Wurzeln haben: der Komponist Johann Stamitz, der Architekt und Designer Josef Hoffmann, der Nationalökonom Joseph Schumpeter, der Sozialreformer Julius Tandler. Auch weniger erfreuliche Gestalten sind darunter – etwa der im Zuge der Nürnberger Prozesse hingerichtete Wiener NS-Reichsstatthalter Arthur Seyss-Inquart. Und eine vorzüglich deutsch sprechende ältere Frau, mit der ich ins Gespräch komme, klärt mich mit verschmitztem Lächeln darüber auf,