Dietmar Grieser für Kenner. Dietmar Grieser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietmar Grieser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903083974
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Félicité Denise Moke, einer zu ihrer Zeit berühmten Konzertpianistin, verehelicht, hinterläßt keinen männlichen Erben: Der Name Pleyel bleibt nur mehr als Taufpate des führenden Pariser Konzertsaals erhalten und als Klaviermarke. Heute werden die schon von Chopin, Rubinstein und Saint Saëns hochgeschätzten Pleyel-Flügel in einer Werkstätte der südostfranzösischen Provinzstadt Alès hergestellt – und das auch nur, weil sich das Nachfolgeunternehmen des »Autrichien« mit einer Zusatzproduktion von Radio- und Fernsehgeräten über Wasser hält.

      Aus: Heimat bist du großer Namen, 2000

      Der Ölberg von Hohenseibersdorf

      225 Jahre hat er Wind und Wetter getrotzt, zuletzt auch noch den Gefährdungen durch die schweren Maschinen des landwirtschaftlichen Kollektivbetriebs, die während der KP-Ära auf den Feldern ringsum im Einsatz waren, um dem kargen Boden neue Frucht abzugewinnen. Doch außer ein paar Schrammen hat er kaum etwas abbekommen, und auch die brüchigen Stellen an Einfriedung und Sockel gehen nicht auf gewaltsame Eingriffe von Menschenhand zurück, sondern auf das unterirdische Rumoren des Wurzelwerks vom benachbarten Baumriesen. Man wird es also wohl ein Wunder nennen dürfen, daß der steinerne Christus auf dem Ölberg zwischen Mährisch Neudorf und Hohenseibersdorf so gut wie unangefochten die Jahrhunderte überdauert hat, und seitdem der Steinmetz aus dem Tal am Werk ist, die ärgsten Schäden zu beheben, scheint auch seine weitere Zukunft gesichert.

      Das einzige an Reparatur, was von Zeit zu Zeit anfällt, ist das behutsame Nachziehen der Schriftzeichen, die über Herkunft und Widmung des Monuments Auskunft geben, und das ist schon deshalb von Bedeutung, weil es nicht irgendein gottesfürchtiger Anonymus gewesen ist, der sich hier als Stifter hervorgetan hat, sondern Franz Schuberts Großvater: der Bauer Carl Schubert aus dem nahen Neudorf im Kreis Mährisch Schönberg. »Aufgerichtet von einem unwürdigen Liebhaber«, lesen wir auf einer der Schrifttafeln, die die mannshohe Statue umkleiden, und wir lesen es mit Rührung. Ein »unwürdiger Liebhaber« des Herrn Jesus Christus – schöner kann man es wohl kaum ausdrücken, als dies der siebenundfünfzigjährige Carl Schubert sieben Jahre vor seinem Tod getan hat.

      Er ist kein Krösus, der aus dem Vollen schöpft, sondern ein Landwirt wie viele andere. Was ihn von diesen unterscheidet, ist lediglich sein Mut, gegen die Willkür der Obrigkeit aufzubegehren, die, wenn es ihr nötig erscheint, mit aller Härte die Leibeigenschaft ihrer Untergebenen verteidigt. Bei den Martern des Ölberg-Christus, die er dem Steinmetz darzustellen aufträgt, mag Carl Schubert tief im Innersten also wohl auch an sein eigenes Los und an das seiner Zeitgenossen denken: Der Boden, den er zu bewirtschaften hat, ist steinig, das Klima auf den in 600 Meter Seehöhe gelegenen Feldern an den Ausläufern des Altvatergebirges rauh, das Regiment der Grundherren, die über Wohl und Wehe der 42 Häuser und 253 Einwohner von Neudorf wachen, streng. Sein Sohn Franz Theodor, eines von elf Kindern und zu dieser Zeit ein Bursche von siebzehn Jahren, wird mit einundzwanzig den elterlichen Hof verlassen und im fernen Wien jene Elisabeth Vietz ehelichen, die am 31. Jänner 1797 ein Genie zur Welt bringt: den Komponisten Franz Schubert.

      Den Ölberg-Christus von Hohenseibersdorf mag der »Franzl«, dem der Vater sicherlich ab und zu von der alten Heimat erzählt, vom Hörensagen kennen, selbst sehen wird er ihn nie. In den nicht einmal 32 Lebensjahren, die ihm beschieden sind, bleibt keine Zeit, sich im Land seiner Altvorderen umzusehen: Man hat andere Sorgen, als Nostalgiereisen zu unternehmen, kommt ja kaum je aus Wien heraus. Es bleibt also den heutigen Kulturtouristen überlassen, Franz Schuberts nordmährischen Wurzeln nachzuforschen, ja vielleicht sogar die heikle Frage aufzuwerfen, ob dies ausschließlich familiäre, rein stammesgeschichtliche Wurzeln sind und nicht auch musikalische. Welche Lieder hat die Mutter ihrem »Franzl« vorgesungen, welche Melodien hat der Vater daheim auf seiner Geige gespielt? Waren es mährische Volksweisen? Um 1830 kommt in Nordböhmen die Polka auf – da liegt Franz Schubert zwar schon zwei Jahre unter der Erde. Doch was ist mit ihren Vorläufern? Fragen über Fragen – und zugegeben: alle sehr hypothetisch. Der Wiener Musikwissenschaftler Gustav Danzinger hat sie vor einigen Jahren immerhin zur Diskussion gestellt.

      Was klar auf dem Tisch liegt, sind die genealogischen Fakten, und die sind interessant genug. Seitdem Martha Böhm-Schubert, die hochbetagt in Wien lebende Urgroßenkelin von Franz Schuberts Bruder Ferdinand, alles Familiengeschichtliche akribisch aufgearbeitet, wiederholt auch die Stätten der mährischen Urheimat aufgesucht und ihre vielfältigen Funde in dem 1997 erschienenen Privatdruck »Franz Schuberts Großvater« niedergelegt hat, ist es ein Leichtes, sich trotz der inzwischen durchwegs veränderten Ortsnamen in der strittigen Gegend zurechtzufinden.

      Ich beginne – wie schon eingangs erwähnt – mit der von Großvater Carl Schubert gestifteten Christusfigur auf der Bergwiese zwischen Neudorf und Hohenseibersdorf. Eine Gruppe einsamer Wanderer, die mit vorzüglichem Kartenmaterial ausgerüstet ist, zeigt mir die Richtung an, den Rest besorgen freundliche Einheimische, die ich über den Gartenzaun ihrer Keusche hinweg ausfrage. Ich bewege mich in einer Streusiedlung ohne eigentlichen Ortskern, und Wegweiser – gar solche mit Schubert-Bezug – gibt es nicht. Die Freude ist also groß, als ich schließlich – nach einigen Irrwegen – tatsächlich vor der gesuchten Statue stehe. Schönstes Spätbarock. Ringsum unbewirtschaftete Felder, da ein Birkenwäldchen, dort ein einzelner Baumriese, dazwischen Wiesenblumen, üppig wucherndes Unkraut, Klee in allen Varianten. Einer, der vor mir dagewesen ist, hat dem Heiland einen mittlerweile vertrockneten Feldblumenstrauß auf den steinernen Arm gelegt. Sämtliche Inschriften, auch die einschlägigen Zitate aus dem Neuen Testament, die Sockel und Altartisch schmücken, sind gut lesbar – hoffentlich werden sie es auch auf den Fotos sein, die ich knipse.

      An diesem Platz, den ich mit so viel Mühe ausfindig gemacht habe, ist vor mehr als zwei Jahrhunderten Franz Schuberts Vater Tag für Tag vorübergeschritten, als er vom elterlichen Bauernhof den einstündigen Fußmarsch zur Schule zurücklegte, in der er als Hilfslehrer sein erstes Geld verdiente. Es ist der nämliche Weg, der ihm auch schon als Kind vertraut war, als er noch selber in Hohenseibersdorf zur Schule ging (ehe ihn die Eltern zum Gymnasialunterricht ins Brünner Jesuitenkolleg schickten).

      Die Schuberts in Neudorf waren also – bei aller Abhängigkeit von der Liechtensteinschen Güterverwaltung, der sie unterstanden – ambitionierte Ackerbauern von »gehobenem« Stand. Wie sonst hätten sie ein so aufwendiges Denkmal wie den Ölberg-Christus in Auftrag geben können? Für 237 Gulden haben sie ihren Hof erworben; das alte Bauernhaus hat sich bis lange ins 20. Jahrhundert erhalten, 1928 wurde neben dem Eingangstor sogar eine Gedenktafel angebracht. Heute steht von alledem nichts mehr; nur die Kapelle, deren Errichtung ebenfalls auf das Konto von Franz Schuberts Großvater geht, ist in jüngster Zeit erneuert worden.

      Leichter zu finden als der auf seiner Bergwiese versteckte Christus, ist die Schubert-Kapelle inzwischen das eigentliche Ziel der Musikenthusiasten aus Tschechien, Deutschland und Österreich. Neudorf heißt heute Vysoká – schon von weitem sehe ich das strahlend weiße Kirchlein auf dem sattgrünen Wiesengrund. An dem schmalen Fußweg, der hinführt, ein paar Ferienhäuser, in deren Vorgärtchen die Wirtsleute mit ihren Sommergästen zum Nachmittagsplausch beisammensitzen. Die Familie, der die Obsorge für die Schubert-Kapelle aufgetragen ist, treffe ich zu meinem Bedauern nicht an, und von den Nachbarn verfügt keiner über den Schlüssel. Ich muß mich also mit einem Blick von außen begnügen, und die herrenlose Katze, die sich ins Innere der Kapelle verirrt hat und nun mit lautem Klagen um Befreiung bettelt, kann von mir keine Hilfe erwarten.

      Einmal im Jahr wird hier eine Gedenkmesse gefeiert: Da rücken von überallher die Mitglieder der Tschechisch-Österreichischen Schubert-Gesellschaft an und halten in einem nahegelegenen Hotel auch gleich ihre Generalversammlung ab. Die am Ortseingang errichtete Schautafel weist ihnen den Weg zu den diversen Schubert-Gedenkstätten, während das auf dem Gelände vor der Kapelle angelegte Mahnmal mit den symbolischen Jahreszahlen 1914 und 1989 eine Art Brücke zu jenen politischen Umwälzungen schlagen soll, die das Land in neuerer Zeit teils heimgesucht, teils befriedet haben: In tschechischer, deutscher, polnischer und englischer Sprache wird »der Opfer der Kriege, des Terrors und der Unfreiheit« gedacht.

      Das Hotel »Franz Schubert« im Nachbarort Vojtíškov, für das ein Hinweis auf der vorerwähnten Schautafel wirbt, existiert nicht; stattdessen lande ich in einer trübseligen