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Автор: Dietmar Grieser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903083974
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beizusteuern, obwohl dies absolut nicht sein Metier ist und Saint-Exupérys diesbezügliche Ausbildung sich auf den Zeichenunterricht im Gymnasium beschränkt.

      Gewiß, da gibt’s schon vorher, noch in den Frankreich- und Nordafrika-Jahren, die ersten flüchtigen Skizzen des kleinen Gesellen – auf Zettel und Speisekarten fetzt er sie hin, wenn er im Restaurant aufs Essen wartet oder im Fliegercamp auf seine Maschine. Es ist schon der gleiche Junge im overallartigen Dress, mit der blonden Mähne und mit vor Staunen weitaufgerissenen Augen – einmal auf einer Bergspitze sitzend, einmal von einer Wolke aus ins Weltall blickend, oft auch einfach nur einem Schmetterling nachjagend. Seine Kriegskameraden, mit denen er sich zum Schachspiel trifft, zu Domino und Poker, erkundigen sich bei ihm, was es denn mit dieser immer wiederkehrenden Figur für eine Bewandtnis habe, die er mitunter auch in Buchwidmungen einfügt und in Freundesbriefen. Saint-Ex gibt nur sehr verschwommen Auskunft: Der kleine Kerl gehe ihm eben im Kopf herum, er symbolisiere die Träume, denen der Mensch nachlaufe, c’est tout.

      Als Antoine de Saint-Exupéry im Sommer 1942 in nächster Nähe seiner New Yorker Wohnung, im Café Arnold am Columbus Circle, mit seinem amerikanischen Verleger, Curtis Hitchcock, zu einer Unterredung zusammentrifft, kommt er wieder einmal ins Kritzeln – beiläufig und selbstvergessen, auf der Papierserviette, die neben seinem Gedeck liegt. Und wieder ist es dieser sonderbare kleine Junge, den er da mit ein paar Bleistiftstrichen zu flüchtigem Leben erweckt. Das Motiv hat etwas eindringlich Melancholisches, deutet auf Einsamkeit hin und auf Traurigkeit – Hitchcock greift das Thema auf und läßt nicht eher locker, als bis ihm sein Autor Rede und Antwort steht. Wäre das denn nicht etwas für ein Kinderbuch? Für ein modernes Märchen – vom Autor selbst illustriert?

      Saint-Exupéry erschrickt: An so etwas hat er nie gedacht. Aber er läßt sich überreden. Und macht sich, als er einige Wochen später in Bevin House auf Long Island seine ideale Traumwerkstatt gefunden hat, an die Arbeit. Nacht für Nacht – wie ein Besessener schreibt er die Geschichte vom kleinen Prinzen nieder, der von Planet zu Planet eilt, von Enttäuschung zu Enttäuschung, und schließlich in der Einsamkeit der Wüste mit einem notgelandeten Piloten Freundschaft schließt.

      Das »Material« für sein Märchen hat er im Überfluß zur Hand: Da sind die eigenen Wunschträume des passionierten Fliegers, der, seitdem er diesen Beruf ausübt, in Kontinenten und Kosmen zu denken gewohnt ist; da ist die Erinnerung an seine Notlandung in der Sahara, die ihn, zusammen mit einem Techniker, fünf Tage lang ohne Nahrung durch die Wüste irren ließ, bis die beiden von einer Karawane entdeckt und gerettet wurden; da tauchen die Bilder der Kindheit wieder auf – »Mondgucker« nannten sie ihn schon, als er noch zur Schule ging. Und das lautlose Verschwinden des kleinen Erdengastes am Schluß der Geschichte – ist es nicht wie eine makabre Vorwegnahme von Saint-Exupérys eigenem Exodus, der ein Jahr nach Erscheinen des »Kleinen Prinzen«, nun wieder bei seiner alten Fliegereinheit in Nordafrika, zu einem letzten Beobachtungsflug aufsteigt, von dem er – ohne daß sein Ende je genau geklärt worden wäre – nicht mehr zurückkehrt?

      Die Amerikaner, die den »Kleinen Prinzen« noch vor den Franzosen kennenlernen (1943 erscheint in New York die englische Übersetzung, erst 1945 in Paris das französische Original, ganz zu schweigen von Deutschland, wo darüber noch weitere fünf Jahre vergehen), fördern noch manches andere Realitätspartikel zutage: Wer den Autor auch im strengsten New Yorker Winter, bei 15 Grad unter Null, niemals einen Mantel tragen sah, immer nur jenen gewissen langen Schal überm Jackett, der auch dem kleinen Prinzen bei fast allen seinen Abenteuern um den Hals flattert, wird auf Schritt und Tritt auf autobiographische Anspielungen stoßen, und wer gar in die mehr als schwierige Ehe der Saint-Exupérys Einblick gehabt hat, wird in der Parabel von der stolzen und eitlen Rose, deretwegen der kleine Prinz von seinem Planeten Reißaus nimmt, unweigerlich an Consuelo erinnert werden und an die Probleme, die die beiden – vor allem in ihren New Yorker Exiljahren – miteinander gehabt haben.

      In Eaton’s Neck auf Long Island, wo »Der kleine Prinz« entsteht, bleibt Saint-Exupéry, solange es die Witterung zuläßt. Immer wieder verlängert er seinen Aufenthalt in Bevin House, das er so sehr liebt wie keinen Wohnsitz vorher und nachher. Nach der Rückkehr nach Manhattan wechselt er noch einmal die Adresse: Beekman Place an der East Side. Es ist ein exklusives Logis – einer der Vormieter war die Filmschauspielerin Ethel Barrymore. Heute im Schatten des UNO-Hauptquartiers, das gleich daneben in die Skyline ragt, ist die einst berühmte Aussicht nunmehr durch häßliche Industrieanlagen verdorben, und auf den Parkbänken an der Waterfront schlafen die Obdachlosen ihren Rausch aus.

      Schon seit einiger Zeit unternimmt Saint-Exupéry alles Erdenkliche, um wieder nach Nordafrika zurückzugelangen und an der Seite seiner Waffenbrüder am Endkampf gegen Hitlerdeutschland teilzunehmen. Amerika bedeutet für ihn doppeltes Exil: fern der Sprachheimat und fern dem Fliegerhimmel. Endlich, am 15. März 1943, erhält er die Ausreisepapiere; die Kostümwerkstätten der Metropolitan Opera fertigen ihm im Eiltempo eine Privatuniform an. Vier Tage vor seiner Einschiffung nach Algier feiert die »New York Herald Tribune Weekly Book Review« das Erscheinen der Erstausgabe des »Kleinen Prinzen« – Rezensentin ist jene Pamela Travers, deren Weltbestseller »Mary Poppins« Saint-Exupéry bei jeder Gelegenheit als das gelungenste Kinderbuch seiner Zeit gepriesen hat.

      In großer Hast nimmt der Dichter von seinen Freunden in Amerika Abschied. Silvia Hamilton Reinhardt, die er im Hause seines englischen Übersetzers Lewis Galantière kennengelernt hat und die ihm eine goldene Erkennungsmarke mit fix und fertig eingravierten Daten (inklusive Blutgruppe) zum Geschenk macht, empfängt als Gegengabe seine alte Zeiss Ikon und das Ur-Manuskript des »Petit Prince«.

      Die 175 Blatt Dünnpost mit den Text- und Bildentwürfen, zum Teil unvollständig, zum Teil aber auch (der verschiedenen Versionen wegen) doppelt, sind seit 1968 im Besitz der New Yorker Pierpont Morgan Library, und Kurator Herbert Cahoon, der der Autographensammlung des altehrwürdigen Instituts an der Madison Avenue vorsteht, erteilt mir die mit vielerlei Formalitäten verbundene Erlaubnis, den kostbaren Schatz einzusehen. Über drei Schreibmaschinenseiten erstrecken sich die Benützerbedingungen, an meinem Platz im Reading Room wird eine Filzdecke ausgebreitet, sodann die Schachtel mit dem »working manuscript« herbeigeschafft, und ich darf unter Aufsicht (und unter genauer Anleitung, wie beim Umblättern der Seiten vorzugehen sei) meine Studien beginnen.

      Unter solch dramatischen Umständen geriete ich wohl auch bei einem weniger wertvollen Manuskript, als es dieses ist, in einen Zustand mystischer Erregung. Da ist die kaum entzifferbare Handschrift des Dichters: winzigklein und sprunghaft, zuerst Bleistift, dann braune Tinte. Da sind die Flecken, die den Kaffeetrinker, die angebrannten Ränder, die den Zigarettenraucher verraten. Da ist die zerknüllte und mühsam wieder glattgestrichene Farbskizze: ein offensichtlich verworfener Versuch, der schon im Papierkorb gelandet war. Daneben anderes, das in der Endfassung unter den Tisch fiel: ein Bild des gestrandeten Piloten, ganz klein das havarierte Flugzeug im Hintergrund. Oder der unheimliche Affenbrotbaum – noch drastischer, noch gewalttätiger als im Buch den Planeten des Kleinen Prinzen umklammernd.

      Niemals habe ich Stefan Zweigs Ergriffenheit beim Betrachten von Autographen, seine wortreiche Beschwörung jener »geheimnisvollen Sekunde des Übergangs«, da eine Verszeile oder ein Prosasatz »aus der Intuition eines Genies durch graphische Fixierung ins Irdische tritt«, stärker nachempfunden als in diesem Augenblick – hier im Reading Room der Pierpont Morgan Library in New York. Und auch Albert Einsteins Urteil über den »Kleinen Prinzen« will mir auf einmal gar nicht mehr so bombastisch erscheinen: »Saint-Exupéry ist einer der Männer, die die Welt retten könnten. Denn er ist beides in einem: Mathematiker und Poet.«

      Aus: Die kleinen Helden, 1987

      James Bond jagt nicht nur Verbrecher, sondern auch Kolibris

      Herbst 1960. Der Londoner Verlag William Collins Sons & Co. hat von dem Standardwerk »Die Vogelwelt der Karibik«, das er seit 24 Jahren in seinem Programm hat, eine auf den jüngsten Stand gebrachte Neuauflage herausgegeben; nun erhält der Autor die ersten Rezensionen, die sich in der Presseabteilung angesammelt haben. Das dicke Kuvert mit den Zeitungsausschnitten geht nach Amerika: Der Adressat ist Kurator für Vogelkunde an der Akademie für Naturwissenschaften in Philadelphia. Sein Name: James Bond.

      Der