Mörderisches Venedig. Gerhard Tötschinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Tötschinger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783902998026
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im Gefängnis bewachten und betreuten. Sie sei hochgradig hysterisch, leide unter Nervenkrisen, übe aber andererseits eine große Suggestivkraft auf die Menschen ihrer Umgebung aus.

      Große Aufregung brachte die Ankunft der Mutter des ermordeten Grafen Komarowski, einer sehr vornehmen Dame von dreiundsechzig Jahren. Außer ihr waren noch der Vater Naumows ebenso wie der Vater der Tarnowska im Gerichtssaal, der alte Graf Rusk. Während Naumow senior unentwegt weinte, verstand der Vater der Angeklagten nur wenig von den Vorgängen, denn er sprach nicht Italienisch – im Gegensatz zur Mutter des Ermordeten.

      Gräfin Komarowska hatte ihren Sohn immer wieder vor der Braut mit der bewegten Vergangenheit gewarnt – sie werde ihm kein Glück bringen und die Gesellschaft werde das künftige Ehepaar meiden.

      Das Gericht hatte bei Fachärztes Gutachten zum Geisteszustand der Hauptangeklagten und der beiden Männer in Auftrag gegeben. So standen also jetzt auch der »Direktor des Irrenhauses von Venedig, Dr. Cappeletti«, der Psychiater Morselli aus Genua, Professor Dr. Tanzi, »Geisteskrankenarzt aus Florenz«, der berühmte Psychiater Prof. Dr. Bianchi aus Neapel und Professor Belmondo, Direktor der Klinik für Geisteskrankheiten an der Universität Padua, vor den Schranken.

      Die Herren waren weitgehend einer Meinung. Das Abenteurerleben der Angeklagten habe ihre neurotische Anlage bis zur »Störung ihrer Seelenvorgänge gesteigert«, »moralische Anästhesie« sei eingetreten.

      Wenige Tage später kam es zu den Strafforderungen des Staatsanwaltes, und danach zu langen, heftigen Auseinandersetzungen zwischen den vielen Rechtsanwälten. Jeder versuchte, seinen Schützling zu entlasten und die Schuld der anderen Angeklagten zu beweisen. Erfolg hatte nur der Anwalt der Schweizerin Perier.

      Die Beratung des Schwurgerichts dauerte vier Stunden. Vor dem Gebäude standen Tausende und erwarteten die Urteile. Sie machten so großen Lärm, dass es in den Räumen schwer geworden sein soll, sich zu konzentrieren.

      Naumow wurde zu dreieinhalb Jahren, die Tarnowska zu acht Jahren, Prilukow zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Perier kam ohne Strafe davon, man konnte ihr die Mitwisserschaft nicht nachweisen.

      Das Urteil war gefällt, die Täter hatten ihre verdiente Strafe abzusitzen, die russische Gräfin kam ins venezianische Frauengefängnis auf der Giudecca. Das war bis 1806 ein Kloster der Benediktinerinnen gewesen, von der französischen Besatzungsmacht säkularisert.

      Zwischen dem 28. Februar und dem 21. Mai 1910 wurden die Gerichtsreporter der venezianischen Zeitungen der Tarnowska-Berichte nicht müde, vor allem in der Gazzetta di Venezia.

      Die Öffentlichkeit wandte sich danach neuen Skandalen, neuen Prozessen, neuen Untaten zu. Die Venezianer sollten dazu schon bald Gelegenheit haben. Denn an diesem 21. Mai 1910 geschah ein Verbrechen, das die Serenissima weit mehr betraf als der Fall der verruchten Russin. Doch dazu mehr in der Geschichte »Das mordende Haus«.

      Der Palazzo Vendramin vor Richard Wagner

      Kriminelle Energien in Adelskreisen sind keine Seltenheit. Besonders anschaulich zeigt das die Geschichte der Brüder Calergi: Vettor (1610–1665), Antonio (1626–1647), Giovanni (1628–1664) und Pietro Calergi (1629–1686).

      Sie waren von edler Abstammung. Ihr Vater war Vincenzo Grimani, aus der Linie von Santa Maria Formosa. Mütterlicherseits kamen sie aus einer sehr alten Familie mit griechischen Wurzeln, die von Kreta nach Venedig gezogen war. Als die Serenissima im Jahre 1297 das Goldene Buch schloss, also das Adelsverzeichnis zum Abschluss führte, hatten die Calergi zwar den Sitz im Großen Rat nicht mehr zugesagt bekommen, aber sie gaben nicht auf. Durch verschiedene wohltätige Aktionen während des Krieges von Venedig gegen Chioggia gelang es ihnen, 1381 als Patrizier anerkannt und endlich in den Großen Rat berufen zu werden.

      Vincenzo Grimanis ältester Sohn war Vettor Grimani Calergi, geboren zu Venedig am 21. September 1610. Die Calergi hatten 1598 den prachtvollen Palazzo Loredan ersteigert, aus dem Besitz des Markgrafen von Mantua.

      Ihr Familiengesetz verpflichtete Vincenzo, den Ehemann der neuen Besitzerin, zur Annahme des Namens Calergi. Hier lebte die Familie Grimani Calergi bis zum Erwerb des Palazzo durch die Familie Vendramin im Jahre 1739 durch Erbschaft.

      Vincenzo und seine Frau Marina hatten eine zahlreiche Nachkommenschaft. Da waren die acht Töchter, fünf wurden Nonnen, drei heirateten – Maria den Niccolo Vendramin, Canciana den Leonardo Dolfin und Cornelia den Alvise Zorzi. Alle drei Schwiegersöhne trugen bedeutende Namen.

      image Der Palazzo Vendramin-Calergi um 1855

      Dazu kamen vier Brüder – die beiden älteren waren für den Beruf des Priesters bestimmt, die zwei anderen sollten den Fortbestand der Familie für die nächsten Generationen sichern. Aber das lief etwas anders.

      Die vier Grimani Calergi erwarben sich in kurzer Zeit einen weithin hallenden Ruf – rauflustig, zügellos, brutal. Sie hatten in ihrem weitläufigen Palazzo einen besonders unübersichtlichen Teil, den sogenannten Weißen Flügel. Vincenzo Scamozzi hatte ihn 1614 gebaut. Dort konnten sie sich verstecken, dort wurden sie mehrmals erfolglos gesucht. Annähernd harmlos war nur Antonio, der gerade Abate geworden war, als er starb. Dass Vettor ebenso Abate war, scherte ihn überhaupt nicht. Er ließ sich ständig von einer Gruppe von Raufbolden, Bravi, begleiten, die für ihn die Dreckarbeit übernahmen. So war er bald sehr gefürchtet, noch mehr als seine Brüder.

      Was der Rat der Zehn dachte und beschloss, kümmerte Vettor nicht im Geringsten. Einmal hatte man ihn zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt – er kam einfach nicht und blieb wohl bewacht im Familienpalais im Stadtteil San Marcuola.

      Hatte Vettor ein Auge auf eine Dame geworfen, dann war ihm kein Weg zu mühevoll, keine Gemeinheit zu gefährlich, er musste die Frau zur Geliebten machen, wenn auch nur für einige Tage.

      Wagte sich eine zu widersetzen, so konnte das für sie auch gefährlich werden.

      Annamaria Santelli war eine erfahrene Kurtisane, als sie sich zu einer Bühnenkarriere entschloss. Vettor Grimani Calergi verliebte sich in die junge Frau, umwarb sie, ohne Erfolg. Als es ihm zu bunt wurde, bestrafte er sie.

      Jeden Tag sah man sie auf einem Balkon des Palazzo Balbo, lange still sitzend, Sonnenbad, Schönheitsschlaf. Immer wieder hatte sie Besuch eines Verehrers, das stachelte natürlich die Grimani’sche Eifersucht in Tobsuchtsanfallhöhen.

      Die Bravi Vettores waren selbstredend auch gute Schützen. Sie versorgten die Santelli mit einer Ladung ätzenden Salzes aus einer weitreichenden Hakenbüchse. Dabei wurde die Schauspielerin nicht nur erschreckt, sie wurde auch empfindlich verletzt.

      Das brachte Vettor wieder einmal Gefängnis ein, fünf Jahre Dunkelhaft, auf der Stelle anzutreten. Der älteste Bruder verließ sich auf seine jüngeren, mit Recht. Sie bereiteten die Entführung vor.

      An der Stelle der Seufzerbrücke, an der der Gefangene den Gang zu den Bleikammern erreicht hat, lauerten sie. Hinter einer Türe verborgen warteten die Bravi. Als nun Vettor kam, wurden die Bravi hereingelassen, Pietro stach auf den Offizier des Begleitkommandos ein, verletzte ihn tödlich und die ganze Gruppe mit ihrer menschlichen Beute floh zum darunterliegenden Kanal, wo einige Gondeln wartend bereitlagen.

      Vettor war ausnahmsweise der Boden zu heiß geworden, er verließ das Staatsgebiet Venedigs und wartete in der Ferne, dass sich eine Änderung des Gremiums des Rates der Zehn ergebe. Doch er kehrte zurück, verliebt.

      Die Auserwählte, eine junge Aristokratin namens Elena Bassanella, aus gediegener Familie, wollte von ihrem Verehrer nichts wissen. Er trachtete, sie zu beeindrucken, indem er prächtig gekleidet, von seiner Schurkentruppe begleitet, zu ihr kam – vergeblich.

      Da es im Guten nicht ging, musste man andere Mittel ergreifen – Entführung.

      Die Mutter, bei der die schöne Tochter lebte, war aber auf der Hut und so verbargen sich die beiden Damen bei einem Verwandten, dem Grafen Demetrio Santi, bei der Kirche Santi Apostoli.

      Enttäuscht und wütend sah der zweiundvierzigjährige Abate, dass