Die ganze Geschichte ist durch die Zeitungen gegangen und vor allem durch das Gerichtsurteil des Jahres 1965 der Öffentlichkeit wohlbekannt.
Der Schriftsteller Alexander Lernet-Holenia weiß noch von einem weiteren Kind des Kronprinzen, freilich einem unehelichen. Er hat dessen Lebensgeschichte bis ins Detail ausfindig gemacht, in seinem Buch Die Geheimnisse des Hauses Österreich beschreibt er die Umstände, und hier folgt nun eine kurze Nacherzählung – denn sie führt nach Venedig.
Der Kronprinz, schreibt der Autor, habe mehrere uneheliche Kinder gehabt.
Die Mutter eines dieser Kinder, ein Fräulein Kamner, sei mit 50 000 Gulden abgefertigt worden. Das Kind habe es mit dieser Summe im Hintergrund zu einem beträchtlichen Vermögen gebracht.
Ein Teil dieses Vermögens habe die auch finanziellen Katastrophen beider Weltkriege dank der Hilfe aus aristokratischen Kreisen überstanden. Es lag nun auf einem Nummernkonto bei der Bank von England. Inzwischen war die beinahe kaiserliche Abkunft der Grundlage dieses Vermögens weitgehend in Vergessenheit geraten.
Doch die Witwe des Kronprinzensohnes war noch am Leben und sei von einem Rechtsanwalt über Herkunft und Höhe der Summe informiert worden, der ihr auch die Nummer des Kontos angab, über das sie nun zugunsten ihres noch minderjährigen Sohnes verfügen durfte und sollte.
Leider habe sie sich aber zu einer Anlage des Großteils dieses Geldes bewegen lassen, in dem damals sehr aktuellen IOS Investment Fonds eines später gerichtsnotorischen Mannes namens Bernie Cornfeld. Damit reduzierte sich der Kontostand in London auf eine nur mehr marginale Summe, und hier beginnt die Geschichte erst so richtig.
Der junge, mittlerweile längst großjährige Herr Kamner habe sich, schreibt Lernet-Holenia, über den Wert dieses Kontos keine Illusionen gemacht und sich ebenso wenig für die Familiengeschichte interessiert, die seine Mutter ihm mitgeteilt hatte.
Er genoss sein Leben – und lernte bei dieser Tätigkeit ein Ehepaar aus Venedig kennen, Graf und Gräfin Bracciolini. Die Gräfin hätte er gerne näher kennengelernt und ließ sie das auch wissen. Zwecks Unterstützung seiner diesbezüglichen Schritte deutete er den Besitz eines Kontos bei der Bank von England an. Doch Gräfin Hanka wagte nicht, sich ähnliche Gedanken über den jungen Kamner zu machen, wenigstens jetzt nicht in Wien. Aber wenn er zu Besuch nach Venedig käme, wer weiß … Und die beiden Bracciolini reisten heim.
Kamners Besuch erfolgte sehr bald. Man gab ihm zu Ehren in einem Palazzo einen Empfang, die Gräfin zeigte sich sehr erfreut über den Besuch aus Wien.
Und da ihr Mann das Fest vor ihr verließ, wurde ihre Freude noch deutlicher, geradezu aktiver – bis zu der Frage nach dem Nummernkonto. In Erwartung weiteren Entgegenkommens und den läppischen Kontostand genau kennend, verriet ihr Kamner die Kontonummer. Und die Gräfin forderte ihn zu einem Besuch in der Familienvilla in der Nähe von Treviso auf. Der Graf sei nämlich mehrere Tage lang auf einer Geschäftsreise.
So fuhr also Kamner am nächsten Abend vom Piazzale Roma im eigenen Wagen in Richtung Treviso, das Ziel war nicht schwer zu finden.
Die Gräfin hingegen war schwer zu finden. Kamner musste durch das leere Haus auf die Suche gehen. Sie hing an einem Fensterkreuz, die Vorhangschnur um den Hals.
Graf Bracciolini hatte mit seiner Frau vereinbart, dass sie die Kontonummer in Erfahrung bringen möge, hatte sich, sobald er diese hatte, der Mitwisserin entledigt und sich auch sogleich auf den Weg nach London gemacht.
Da der Abend im Palazzo ebenso wie die Bekanntschaft des Ehepaares Bracciolini mit Kamner allgemein bekannt war, kam es bald nach dessen Rückkehr nach Wien zu einem polizeilichen Verhör, das zu Verhaftung und Verurteilung des Mörders beitrug.
Wer diese Kriminalgeschichte bei Lernet-Holenia nachliest, erfährt noch mehr.
E – se non è vero, è ben trovato.
Die russische Gräfin
Reisen bildet, eine Binsenweisheit. Macht man Station in einem Restaurant und hat nichts zu lesen in der Tasche, kann man sich ärgern oder langweilen, nach einer Zeitung fragen – oder man liest eben, was einem nur ins Auge fällt, die Menükarte, mit scharfem Auge die Lektüre des Tischnachbarn. In der Bar des Hotel Ala am Campo Santa Maria del Giglio kann man das gerahmte Werk eines Gerichtssaalreporters lesen, eine Seite aus dem Gazzettino, der venezianischen Lokalzeitung.
Im Frühjahr 1910 erregt ein Prozess Alt und Jung, Arm und Reich in der Stadt an der Lagune. Das Schwurgericht und mit ihm die Gerichtssaalkiebitze und endlich auch die Zeitungsleser blicken in einen »solchen Abgrund von sittlicher Verworfenheit der hohen Gesellschaftskreise, daß man sich mit Betrübnis eingestehen muss, wir sind trotz unseres fortgeschrittenen Zeitalters von wahrer Kultur noch weit entfernt«. Erschüttert berichtet der Reporter Hugo Friedländer selbst ins ferne Berlin. Die von ihm zuletzt verfolgten Prozesse »beweisen, daß in gewissen Kreisen der sogenannten hohen Gesellschaft eine Fäulnis herrscht, von der sich der gesittete Mensch mit Ekel und Abscheu abwenden muß«.
Das kann er freilich nicht, wenn er sich mit dieser Fäulnis beruflich zu befassen hat, wie eben Friedländer. Er muss im Gegenteil sich so sehr mit der Verworfenheit der hohen Gesellschaftskreise beschäftigen, dass er seine Zeitungs-, später auch seine Buchseiten voll bekommt.
Noch intensiver befasst sich einer seiner Schriftstellerkollegen mit diesem interessanten Fall, Hans Habe. Ihm ist die Mordgeschichte um die irisch-russische Gräfin Maria Nikolajewna Tarnowska ein dreißig Jahre dauerndes Quellenstudium wert. Er studiert Expertengutachten, Polizeiprotokolle, Prozessakten, Briefe. Er will den Tatmotiven auf die Spur kommen, und weil er ja auch für sensationsgierige Illustrierte und ihr spezielles Publikum schreibt, wird das Dolce Vita im Russland der Jahre um 1900 ausführlich beschrieben, der Irrweg der verworfenen Gräfin durch feudale Datschen, vornehme Kurorte, Bordelle bis ins Gericht und in das Frauengefängnis von Venedig. Auch die im Jahr der Erscheinung von Habes Buch, 1962, noch in die Zukunft tastende weibliche Emanzipation macht er sich hier zum Thema, denn sie hat nach seiner Aussage »sexuelle Perversionen als Folgeerscheinung«.
Was also war geschehen? Die empörte Zeitung berichtet von einem »Weib der höchsten Gesellschaftskreise, dessen Wiege in einem feenhaften Schloß gestanden, das in üppigstem Luxus und Wohlstand erzogen, dessen Taten aber so entsetzlich waren, dass sich Tinte und Feder sträuben, sie niederzuschreiben«.
Schließlich hatte sie ja ihre erotische Macht missbraucht, um zwei Männer, mit denen sie ein Verhältnis hatte, zum Mord an ihrem künftigen Ehemann zu bewegen.
Selbst im Gerichtssaal soll sie keine Reue gezeigt haben, sie blieb selbstbewusst und hatte dazu wohl auch einen triftigen Grund. Ihre atemraubende Schönheit, die auch zur Basis ihrer Verbrechen geworden war, beeindruckte alle Zuhörer, nicht nur die Männer. Das ging so weit, dass einer der Geschworenen sich zu Wort meldete und sich für befangen und somit prozessunfähig erklärte. Sein Gewissen zwinge ihn zu dem Geständnis, dass er sein Richteramt nicht mehr mit der doch durch einen Schwur gelobten Unbefangenheit ausüben könne. Er habe sich mit aller Macht in die Angeklagte verliebt. Man musste ihn also austauschen.
Die Hauptangeklagte war am 16. Juni 1877 im väterlichen Schloss in der Nähe von Kiew zur Welt gekommen. Ihr Vater war der russische Adelsmarschall Graf Rusk. Mit fünfzehn Jahren kam sie in ein vornehmes Internat, der Vater hatte große Pläne. Maria Nikolajewna sollte dereinst einen Fürsten heiraten. Aber sie und das Schicksal entschieden anders.
Die sechzehnjährige Komtess hatte einen jungen Kosakenoffizier kennengelernt, Graf Wassili Wassiljewitsch Tarnowski, der sie unbedingt zur Frau haben wollte. Graf Rusk war dagegen, die Familie Tarnowski war ihm zu minder, die Tochter zu jung.
Aber diese Tochter setzte ihren Kopf durch, und das nicht zum letzten Mal. Sie ließ sich von ihrem Liebhaber entführen und heimlich heiraten. Damit begann nun ihre aufregende, wenngleich nicht glänzende Karriere. Ihre Schönheit fiel auch anderen Männern auf, und auch der Bruder ihres Ehemannes verliebte sich in Maria Nikolajewna. Als er erkannte,