Mörderisches Venedig. Gerhard Tötschinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Tötschinger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783902998026
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gegenüber der Kirche. Der Wirt der kleinen Bar an der Ecke zum Campo hatte einmal im Leben etwas Atemraubendes erlebt. Davon berichtete er immer wieder, noch mehr als dreißig Jahre nach diesem Vorfall.

      Mehrere junge Mädchen, Studentinnen, pflegten bei ihm ihren Kaffee nach der Vorlesung zu trinken, zu lesen, Neuigkeiten austauschen, zu Beginn des Jahres 1944. Der Wirt war noch kein Wirt, war noch ein Schankbursche, sehr jung, und so gelang es ihm nicht, eines dieser Mädchen, von ihm ganz besonders verehrt, auf sich aufmerksam zu machen. Wäre er schon älter gewesen, hätte er sie gar nicht kennengelernt, denn dann wäre er wohl schon in einem deutschen Kriegsgefangenenlager gesessen, erklärte er stets.

      An einem dieser Tage hatte er Norma noch lange verliebt nachgeblickt, als sie sich mit einer Freundin die Calle Santa Maria Formosa entlang von seinem Lokal heimbewegte. Er sah sie nicht mehr, Minuten später hörte man einen Schuss. Er lief, mit Schürze und Kochhaube, die Gasse entlang, den beiden Mädchen nach.

      Norma war an der Schläfe getroffen worden, sie lag aus einer Kopfwunde blutend am Boden, die Freundin kniete neben ihr, aus den Häusern liefen die Menschen herbei. Das Mädchen starb nur Minuten später.

      Der Fall wurde niemals geklärt. Eifersucht, eine Verwechslung? Das vergilbte Blatt des Gazzettino vom 1. März 1944, in einem Rahmen an der Wand des Lokals, kann auch keine andere Auskunft geben.

      Reiche Unterstützung fand ich in meinem Freund Ruggero Tinacci, im Hauptberuf Schneidermeister und Hausbesitzer, daneben besessener Sammler lokalhistorischer Besonderheiten. Ihm gilt mein besonderer Dank.

      Er war mein erster Hausherr. Damals lebten noch an die 100.000 Menschen im Centro storico, dem Teil der Comune, den man tatsächlich als Venedig begreift, im Gegensatz zu Mestre. Es gab noch zahlreiche Handwerker, Friseure, Milchfrauen, Gesprächspartner. Er schrieb auf, was man ihm erzählte, füllte damit mehrere dicke Schulhefte und ließ mich lesen.

      Einige Schritte von dieser meiner ersten Wohnung am Campo Santa Maria Formosa entfernt steht der Palazzo Querini Stampalia mit seiner hinreißend schönen Sammlung von Bildern zu lokalen Themen, vor allem von Pietro Longhi und von Gabriele Bella. Hier danke ich sehr herzlich der Bibliothek und ihren Mitarbeitern, auch wegen der Öffnungszeiten – an fünf Tagen der Woche von 10 bis 24 Uhr!

      Eine Anregung verdanke ich dem österreichischen Schriftsteller und Dichter Alexander Lernet-Holenia (1897–1976), der sich für Venedig und seine intrigenreiche Geschichte ganz besonders interessierte.

      Mitten in diesen Intrigen, geheimen Verabredungen, Mordvorbereitungen standen die Dogen. Sie selbst waren immer wieder das Ziel derartiger Aktivitäten. Doch auch die mutigen oder aus Verzweiflung handelnden potenziellen Dogenmörder fanden ihren Platz in der Liste der Hinrichtungen. Dafür gab es auch ein ganz besonderes Zeremoniell.

      1430, der Patrizier Andrea Contarini hatte sich zum Ziel gesetzt, Kommandeur der Marine am Golfo di Venezia zu werden, am nördlichsten Teil der Adria. Doch mehrere Senatoren, auch seine Verwandten, meinten, der Doge, Francesco Foscari, sei strikt dagegen, da gebe es keine Chance. Das brachte den Contarini derartig über alle Maßen auf, dass er sich entschloss, den Dogen zu ermorden. Er lauerte ihm im Dogenpalast auf, hatte ihm schon einen Dolch an den Hals gesetzt, da schlug ihm ein gerade dazugekommener sienesischer Gesandter die Waffe aus der Hand, die den Dogen nur ganz leicht an der Wange verletzte.

      Man packte den Attentäter, warf ihn ins Gefängnis, er machte einen verwirrten Eindruck. Die rechte Hand wurde ihm abgehauen, dann henkte man ihn. Der Leichnam wurde aus den Fenstern des Palastes auf die Piazzetta geworfen und dann verscharrt.

      Wenn die eine oder andere folgende Seite zu blutrünstig erscheint, dann helfen zwei Sätze: Das italienische Sprichwort »Se non è vero, è ben trovato« und die tröstenden Worte eines Geistlichen an die weinenden Zuhörer nach seiner Predigt über ein Märtyrerleben: »Das ist doch alles so lang her, und wer weiß, ob es wahr ist.«

      Manche dieser Geschichten sind mittlerweile venezianisches Gemeingut und erscheinen deshalb nicht in diesem Buch, sind sie doch längst anderswo zu finden. Andere aber kenne ich nur aus den Erzählungen meines verstorbenen Freundes Ruggero. Ihm habe ich dieses Buch gewidmet.

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      Der Rumpf im Brunnen

      Am 14. Juni 1779 ging eine Magd zu einem Pozzo nahe der Kirche San Trovaso. Diese Pozzi – öffentliche Brunnen – sind längst alle versiegelt, mit großen Metalldeckeln abgesichert. So kann man sich weder wie einst das heutzutage ohnehin nicht zu empfehlende Wasser holen, noch können diese Brunnen ihren früheren Nebenzweck erfüllen, von dem hier die Rede sein wird.

      Die Magd senkte also ihren Kübel in die Tiefe, zog an der Leine, kräftig, aber vergeblich, und beugte sich vor. Daraufhin wäre sie beinahe ihrem Kübel ins Wasser gefolgt, so sehr hatte sie sich erschreckt. Im Brunnen lag eine Leiche, oder, um genau zu sein, ein Teil einer Leiche. Sie hatte keine Beine und keinen Kopf.

      Wenige Stunden danach hatte ein Bewohner des Campo Santa Margherita ein ähnliches Erlebnis. Ebenfalls im Hausbrunnen eines, jetzt längst abgerissenen, Gebäudes fand man Leichenteile, diesmal allerdings zwei Beine ohne Rumpf. Rasch erkannte die Polizei, dass sich die beiden Brunnenfunde ergänzten.

      Es wurde verfügt, alle Pozzi von Venedig zu kontrollieren – noch fehlte ja der Kopf. Und tatsächlich wurde man fündig, aber nicht wieder in einem Brunnen, diesmal hatte sich der Mörder einen Nebenkanal ausgesucht, einen Rio.

      Niemand konnte den Kopf erkennen. So setzte man die Leichenteile korrekt zusammen und stellte sie für einige Tage auf dem Ponte della Paglia aus, bei der Seufzerbrücke, wie man das auch mit nicht identifizierten Ertrunkenen aus der Lagune zu tun pflegte.

      Doch niemand kannte den Toten. Also wurde das Begräbnis angeordnet, nur der Kopf blieb unbestattet. Er wurde einbalsamiert, in einer Polizeistelle öffentlich ausgestellt. Noch hegte man Hoffnung, jemand werde sich des Gesichts erinnern.

      Aber nun bekam ein scheinbar belangloses Detail plötzlich große Wichtigkeit. Das Volk hatte die Gewohnheit, seine perückenlosen Häupter mit einem Trick zu verschönern. Der Adel, die Wohlhabenden hatten das mit ihren prächtigen Perücken nicht notwendig – weniger gut gestellte Männer hingegen drehten sich Locken mit kleinen Papierstücken. Solch ein einfacher Lockenwickler hatte das Wasser überstanden. Und er trug eine Inschrift – V. F. G. C.

      Dieses Faktum wurde über die Zeitungsberichte allgemein bekannt, auch außerhalb der Lagune. Ein Zeitungsleser im nahen Este geriet in große Aufregung – er hatte die Gewohnheit, seine Briefe an den Bruder mit einer Abkürzung zu beenden, das war einst allgemein üblich. »Vostro Fratello Giovanni Cestonaro« konnte also diese Buchstabenreihe bedeuten, und dieser angeschriebene Fratello, er hieß Francesco, hatte tatsächlich schon länger nicht mehr auf Post aus Este geantwortet. Giovanni war alarmiert. Er eilte nach Venedig zur Polizei und erkannte tatsächlich den ermordeten Bruder.

      Nun wusste man also seinen Namen. Die weiteren Recherchen ergaben, dass der Tote eine Frau mit zwei Kindern geheiratet hatte. Die Nachbarn munkelten von einem jungen Mann, einem Hausfreund. Auch dessen Namen fand man bald heraus, es war Sergio Fantini aus Udine. Nach anfänglichem Leugnen gab zuerst der Geliebte, dann die untreue Ehefrau alles zu. Sie hatten ihrer gemeinsamen Zukunft zuliebe den Francesco Cestonaro mithilfe von Gift ins Jenseits befördern wollen, doch er reagierte darauf nicht. So ging der Hausfreund massiver ans Werk, erschlug den Unglücklichen und schritt dann an die Verteilung der Leichenteile, in der Hoffnung, eine Identifikation unmöglich zu machen.

      image Die Piazzetta mit den Säulen von San Marco und San Todaro, 1890er Jahre

      Am 12. Jänner 1780 fand das Mörderduo sein Ende auf dem Schafott zwischen San Marco und Todaro.

      Linda Cimetta

      Diese Methode, sich einer Leiche zu entledigen, wie wir sie soeben kennengelernt haben, hat an der Lagune Tradition und ist auch in der Gegenwart lebendig.

      Die