Beate stutzte. »Ach ja, natürlich. Aber dem kann man ja abhelfen.« Sie klingelte an der Tür.
Sandra schöpfte wieder Hoffnung. Sie verließ ihr Zimmer und hörte auf halber Treppe zu, wie Felix’ Mutter und Frau Scholl miteinander redeten.
»Ich verstehe das sehr gut«, sagte Frau Herder. »Ich werde mich demnächst auch mit Herrn Dr. Fabrizius bekanntmachen, wenn unsere Kinder sich nun einmal angefreundet haben.«
Sie durfte mit, sie durfte mit! Sandras Herz hüpfte.
»Ist die Olle so schlimm?« fragte Felix, als sie zur Straßenbahn gingen.
»Nein, schlimm ist Frau Scholl nicht, bestimmt nicht«, antwortete Sandra gerechterweise. »Sie hat nur immer Angst, daß mir was passiert.«
»Mit uns passiert dir nix«, sagte Felix burschikos und kickte einen Stein vor sich her.
An diesem Abend hatte Sandra ihrem Papa unendlich viel zu erzählen. Sie wußte gar nicht, wo sie anfangen sollte, und es geriet ihr auch alles ein bißchen durcheinander, so erlebnisreich und lustig war der Nachmittag bei den vielen Tieren gewesen.
»Und dann ist die Mama von Felix noch mit uns ins Café gegangen. Die ist ganz süß. Papa. Die mußt du auch mal sehen.«
»Hat er eigentlich keinen Vater?« fragte Clemens eher nebenbei.
»Nein. Der ist ganz früh gestorben. Ein Seemann war das. Das Schiff ist untergegangen, hat Felix mir erzählt.«
»Das ist sehr traurig«, bedauerte Clemens.
»Hmhm. Aber Felix ist trotzdem nicht immerzu traurig. Vielleicht, weil er ihn gar nicht gekannt hat. Und sicher auch wegen seiner Mutter«, sagte Sandra altklug. »Du, Papa?« Schmeichelnd nahm sie seine Hand. »Ich hab sie eingeladen, am Sonntag mal zu uns zu kommen. Das durfte ich doch?«
Lächelnd sah Clemens auf sein Töchterchen hinab. »So, meine kleine Maus gibt schon Einladungen. Nun, dann laß sie mal kommen.«
Er wollte Frau Herder anrufen, aber sie kam ihm zuvor.
»Ich hoffe, es war Ihnen recht, daß ich Ihre Sandra für einen Nachmittag mitgenommen habe, Herr Dr. Fabrizius«, sagte sie in liebenswürdigem Ton.
»Ja, selbstverständlich. Es hat ihr viel Freude gemacht«, gab Clemens ebenso zurück. »Mich würde es freuen, wenn wir uns einmal persönlich kennenlernen würden, Frau Herder. Darf ich Sie am Sonntag nachmittag zum Tee erwarten?«
»Auf einen kurzen Nachbarschaftsbesuch, sehr gern«, antwortete Beate.
Sie konnten den Tee draußen auf der Terrasse nehmen. Für die Kinder stellte Frau Scholl Eisbecher mit Papierschirmchen hin. Felix benahm sich mustergültig, und Sandra war ganz glücklich, daß sie ihren Papa mit der so lieben Frau Herder zusammengebracht hatte. Es sah aus, als würde er sie gut leiden mögen. Sie hatte es nicht anders erwartet.
Tatsächlich empfand Clemens eine spontane Sympathie für Beate Herder. Sie sah reizend aus in ihrem rosenholzfarbenen Hemdblusenkleid, das braune Haar lag glänzend in leichten Wellen um den Kopf, auch ihre Augen waren braun und hatten einen warmen Glanz. Die ganze Person strahlte eine Herzenswärme aus, die ihn nicht unberührt ließ.
Dazu war sie eine angenehme, kluge Gesprächspartnerin, wie er alsbald feststellen konnte. Zuerst war es nur eine leichte Unterhaltung über alltägliche Dinge gewesen, an der auch die Kinder teilnehmen konnten, aber dann kamen sie auf Beates Tätigkeit zu sprechen. Ein interessanter Beruf, befand der Hausherr. Bücher und ihre Autoren, das war ein weites Feld.
»Dürfen wir spielen gehen?« fragte Sandra, denn davon verstanden sie doch noch nichts. Felix rutschte auch schon auf seinem Stuhl hin und her.
»Ich komme leider zu wenig zum Lesen«, sagte Clemens, als die beiden davongesprungen waren. »Abends bin ich oft sehr abgespannt. Was tut man da, wenn man allein ist? Man setzt sich vor den Fernseher und läßt sich berieseln, was eigentlich falsch ist.«
»Das tun auch viele, die nicht allein sind«, warf Beate ein.
Clemens nickte. »Die Gespräche verstummen mehr und mehr. Das ist keine gute Entwicklung. – Wie wäre es«, unterbrach er sich, »trinken wir noch ein Glas Wein zusammen, Frau Herder?«
»Ich habe nichts dagegen«, lächelte sie, »obwohl –«
»Es nur ein kurzer Nachbarschaftsbesuch sein sollte, ich weiß. Aber eine angenehme Stunde sollte man nicht beschränken.«
Frau Scholl räumte den Teetisch ab, und er holte eine Flasche Wein und zwei Gläser herbei. Er fühlte sich ausgesprochen wohl in Beate Herders Gesellschaft. Ihre ungezwungene, natürliche Art gefiel ihm sehr.
»Auf gute Nachbarschaft!« sagte er, als er eingeschenkt hatte, und er ließ sein Glas gegen das ihre klingen. Dann kam er auf das vorhin angesprochene Thema zurück.
»Ein englischer Roman, von dem ich gehört habe, würde mich sehr interessieren.« Er nannte ihr Namen und Autor. »Leider reichen meine Sprachkenntnisse nicht aus, um ihn im Original zu lesen.«
Ihr hübsches Gesicht zeigte plötzlich einen verschmitzten Ausdruck. »Er ist soeben in deutscher Sprache erschienen, Herr Fabrizius. Es war ein schönes Stück Arbeit«, nickte sie vor sich hin.
»Oh – haben Sie ihn übersetzt?« entfuhr es Clemens überrascht.
»Ja, der Roman wird bald in allen Buchhandlungen zu haben sein. Die Auslieferung hat begonnen. Aber Sie können ihn auch von mir haben. Der Verlag hat mir bereits einige Exemplare zugeschickt.«
»Da müssen Sie mir aber etwas hineinschreiben«, sagte Clemens mit einem heiteren Lächeln. Doch er meinte es nicht so ernst. »Nein, nein, ich werde ihn mir schon kaufen«, fügte er hinzu.
Zwei Tage später aber überreichte ihm Frau Scholl ein Päckchen. »Das hat der Junge für Sie abgegeben, Herr Doktor.«
Es war das Buch. Mit nachbarschaftlichen Grüßen, Beate Herder hatte sie hineingeschrieben.
*
Manchmal rief Bianca an. Das Gespräch verlief immer in ungefähr gleicher Weise. Sie erkundigte sich, wie es um die Familie bestellt war, doch noch bevor ihr Mann recht Antwort geben konnte, berichtete sie schon von ihren Erfolgen, von den Kritiken, die des Lobes voll waren.
Natürlich war es auch ein Streß, räumte sie ein, alle paar Tage in einem anderen Hotel und nur aus dem Koffer zu leben.
»Du willst es ja nicht anders«, bemerkte Clemens.
»Der Applaus meines Publikums entschädigt mich für alles«, versicherte sie. Dann verlangte auch Sandra nach dem Hörer, und ihre Frage war auch stets dieselbe: »Kommst du bald wieder, Mami?«
»Noch nicht so bald, Schätzchen. Ich habe noch ein großes Programm.«
Als mehr als vier Wochen vergangen waren, verabredeten sie endlich ein Treffen. Clemens hatte Sehnsucht nach ihr.
»Aber wir sehen uns erst nach dem Konzert, ja, bitte«, sagte Bianca. »Es ist ausverkauft, du wirst deinen Platz in der Loge des Musikdirektors haben. Ich wohne im Sheraton-Hotel und werde dir dort ein Zimmer bestellen.«
Sandras Augen bettelten und flehten, daß er sie mitnehmen sollte. Sie träumte doch schon lange davon, ihre berühmte Mama auch einmal bei einem öffentlichen Auftritt zu erleben. Davon, daß sie sie zärtlich umarmen würde, bevor sie zur Bühne eilte.
Daraus wurde freilich nichts, auch wenn der Papa schließlich nachgegeben hatte und sie mitfahren durfte. Man ließ sie nicht vor. Es gab strikte Anweisung, die Künstlerin nicht zu stören.
Aber als Sandra dann mit ihrem Vater in der Loge saß, war diese erste Enttäuschung schnell vergessen. Staunend, mit großen Augen, beobachtete sie, was für eine Menschenmenge da in den großen Saal strömte. Die kamen