Sandra schmiegte sich an ihn. »Papa?«
»Ja, mein Liebling?«
»Mama packt schon wieder Koffer.« Ihr Stimmchen klang dünn.
»Ja, ich weiß«, sagte Clemens gepreßt.
»Mama sagt, sie braucht neue Kleider, darum will sie schon morgen fliegen. Aber sie hat doch so viele schöne Kleider.«
»Ihr Publikum will sie eben immer wieder anders sehen, Sandra. Das muß man verstehen.«
Wie vage sich das anhörte. Er unterdrückte einen Seufzer. Dann, in einer plötzlichen Aufwallung, hob er sein Kind zu sich empor. »Aber wir beide, wir bleiben zusammen, und die Zeit wird auch vorübergehen, bis die Mama wieder da ist.«
Am Abend machte er eine Flasche Champagner auf, um mit seiner Frau auf eine erfolgreiche Tournée anzustoßen. Aber auch das prickelnde Getränk vermochte seine Stimmung nicht aufzuheitern.
»Du bist so ernst, mein Lieber«, sagte Bianca.
»Soll ich es nicht sein, wenn ich weiß, daß wir uns nun wieder viele Wochen nicht sehen werden?« hielt er ihr entgegen.
»Wir können uns doch mal treffen, hier oder da«, schlug sie vor. »Ich werde dich wissen lassen, wo ich gerade bin, und dann kommst du.«
Clemens nahm einen großen Schluck aus seinem Glas, wie um einen bitteren Geschmack hinunterzuspülen. »Und Sandra?« fragte er rauh.
Ein erstaunter Ausdruck trat in Biancas helle graugrüne Augen. »Sandra ist bei Frau Scholl gut aufgehoben. Wo siehst du da ein Problem?«
Der Mann preßte die Lippen zusammen und schwieg. Frau Scholl war eine exzellente Haushälterin, und sie ging auch freundlich und fürsorglich mit Sandra um. Aber konnte das Mutterliebe ersetzen?
»Du bist so sehr mit dir und deiner Musik beschäftigt, daß du gar nicht weißt, was in Sandra vorgeht. Sie ist kein wirklich glückliches Kind. Mir tut das weh.«
Biancas Lider zuckten. »Aber was soll ich denn machen? Soll ich mich in Schuldgefühle hineinsteigern, meine Begabung verfluchen, die es nicht zuläßt, ihr genügend Zeit und Wärme und Zuwendung zu geben?«
»Das erkennst du also immerhin, daß du es ihr daran fehlen läßt«, stellte Clemens fest.
»Ja«, gab sie zu. »Daß ich sie trotzdem liebe, muß sie doch spüren. Ich bitte dich, Clemens, hör auf, mir Vorhaltungen zu machen. Du hast schließlich gewußt, wen du geheiratet hast.«
Clemens nickte vor sich hin. Bianca war ihm wie ein wundervolles Wesen aus einer anderen Welt erschienen. Gemessen an seinem harten Beruf war das ja auch eine andere Welt: Die Kunst, die Musik, soviel unvergängliche Schönheit. Daß er diese Frau hatte für sich gewinnen können, war ihm als ein fast unfaßbares Glück erschienen. Erst im Laufe der Jahre hatte er erkennen müssen, daß er auch Opfer bringen mußte für ihre Kunst. Er, und nicht weniger das Kind.
»Du könntest«, sagte er nach einer Pause schleppend, »dich etwas rarer machen in deinem Beruf. Mußt du dich denn von deinem Agenten von einem Konzert zum anderen jagen lassen? Du hast es doch nicht nötig.«
»Nicht nötig«, wiederholte sie ungeduldig. »Du verstehst überhaupt nichts, Clemens.« Sie streckte ihre Hände von sich und betrachtete ihre langen, schlanken Finger. »Ich muß spielen. Sonst bin ich nur ein halber Mensch. In die Tasten greifen und die Töne über mich hinstürmen lassen… Das ist das Leben für mich.«
»Ja, dann mußt du wohl gehen«, brachte Clemens mit schwerer Stimme hervor.
Sein Verhalten reizte Bianca. Es war doch nicht das erste Mal, daß sie auf eine größere Tournée ging. Wieso machte er heute geradezu ein Drama daraus. Sie brauchte ihre Nerven für die Aufgabe, die vor ihr lag.
»Wenn dir das nicht mehr paßt«, sagte sie mit ungewöhnlicher Schroffheit, »dann mußt du dir eben eine andere Frau suchen, eine Hausfrau, eine Glucke, die jeden Abend auf dich wartet und ihr Kind zu Bett bringt.«
Clemens stand auf, als wäre ihm plötzlich alles zu eng. Waren sie schon so weit gekommen, daß sie solche Worte für ihn fand. Er trat an die Terrassentür und starrte in den dunklen Garten hinaus, lange. Bis Bianca sich hinter ihm rührte, zu ihm kam und ihm die Hand auf die Schulter legte.
»So sollten wir nicht miteinander reden, Bianca«, sagte er leise und schmerzlich.
»Ich habe es nicht so gemeint, Clemens. Wirklich nicht. Ich liebe dich doch. Komm sei gut.«
»Ich liebe dich auch.« Mit einem großen, ernsten Blick umfaßte er ihr schönes Gesicht. Mit ihr zu leben war nicht einfach. Aber ohne sie wäre alles nichts.
Sie bot ihm ihren Mund, er küßte sie. Ihr Körper wurde weich und nachgiebig in seinen Armen, sie drängten zueinander. Versinken, vergessen… Nichts anderes sollte es mehr für sie geben in dieser Nacht.
*
»Darf ich mit Frau Herder in den Zoo gehen, Frau Scholl? Sie will mich mitnehmen«, fragte Sandra etwas atemlos.
»Wer ist Frau Herder?« fragte die Haushälterin.
»Die Mutter von meinem Freund Felix. Er hat gesagt, ich könnte mitkommen.«
»Da hättest du deinen Vater fragen müssen, Sandra.«
»Ich weiß es doch erst seit eben«, verteidigte sich das Kind. »Mein Papa hätte bestimmt nichts dagegen.«
»Kennt er denn diese Frau Herder?«
»Nein, aber er kennt den Felix«, sagte Sandra ein wenig trotzig. Wenn Frau Scholl sie nicht gehen ließ, dann würde sie weinen.
»Ich weiß nicht«, zögerte die Haushälterin, eine gepflegte, etwas streng aussehende Frau um die Fünfzig. Sie trug die Verantwortung für das Kind. Nur ungern wollte sie es einer ihr unbekannten Nachbarin überlassen. Den Jungen hatte sie schon gesehen, er war ihr ziemlich wild vorgekommen, wie er da herumturnte. Wohl kaum der richtige Umgang für die zarte Sandra.
»Ich werde versuchen, deinen Vater in der Klinik zu erreichen«, entschied sie nach einer kurzen Pause, währenddessen Sandras Blick flehend an ihr hing. »Ohne seine Einwilligung kann ich dich nicht fortlassen.« Aber von dort teilte ihr eine freundliche junge Stimme mit, daß der Herr Doktor in einer Besprechung sei und nicht gestört werden wollte. »Oder ist es eine wichtige Privatsache?« fragte sie noch.
»Nein, nein, es ist nicht so wichtig«, antwortete Frau Scholl und legte auf.
Sandra wurde rot. »Es ist wohl wichtig!« rief sie aufschluchzend und lief davon in ihr Zimmer.
Dort schob sie sich einen Stuhl ans Fenster, stützte die Arme auf und sah hinaus auf die Straße. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Nichts durfte sie, nichts!
Dann sah sie Felix angesaust kommen. Er kündigte sich mit einem schrillen Pfiff an. Dafür steckte er drei Finger in den Mund, und es gellte einem in den Ohren. Aber lustig war es trotzdem. Der ganze Junge sah lustig aus, mit den stracks nach oben stehenden kurzen Haaren und den Sommersprossen auf der Nase, die ihm, wie er sagte, jedes Frühjahr kamen.
Nur hatte Sandra in dieser Minute keinen Sinn dafür.
»Komm runter!« rief er und winkte ihr mit einer weitausholenden Armbewegung zu. »Meine Mutter kommt auch gleich, sie hatte grad noch ’n Anruf.«
Verschämt wischte sich Sandra über die Wangen. »Ich darf nicht mit«, sagte sie betrübt hinunter.
Verblüfft, mit zurückgelegtem Kopf, starrte er sie an. Dann sah er die Straße entlang. »Sie darf nicht mit!« rief er seiner Mutter schon von weitem zu, die leichten Schrittes daherkam.
»Hallo, Sandra, guten Tag!« Die schlanke, mittelgroße Frau im weiten bunten Rock und