Clemens nannte ihr den Namen. »Aber bevor ich mich näher dazu äußere, würde ich Sie gern sehen, Frau Eckert. Ich hätte noch einige Fragen zu der Vorgeschichte. Dann müßte ich mir die Unterlagen des behandelnden Arztes erst kommen lassen. Wann hätten Sie Zeit?«
»Heute – sofort«, antwortete
Beate schnell. Ihr war, als sähe sie ein winziges Licht am Ende eines dunklen Tunnels.
Sie erfuhr, daß Dr. Fabricius noch im Hotel wohnte. Seine Familie würde erst nachkommen, wenn das Haus, das er gekauft hatte, einzugsbereit war. Sie verabredeten sich für acht Uhr in der Halle.
Nils hatte etwas vor an diesem Abend, er wollte sich mit Freunden treffen. Aber Felix war zu Hause. »Ich passe schon auf Silvie auf, Mama«, versicherte er.
»Ja, ich weiß, daß ich mich auf dich verlassen kann, mein lieber Bub. Ich bleibe auch nicht lange fort.«
Es war nichts Fremdes zwischen ihnen, als sie sich gegenüberstanden. Jeder war seinen Weg gegangen, hatte sein Maß an Freud und Leid gehabt, es hatte sich in ihren Zügen eingeprägt. Und doch – die Jahre schienen zu versinken, als sie sich in die Augen sahen.
Langsam glitt ein versonnenes Lächeln um Clemens’ Mund.
»Ich habe immer noch das Buch von Ihnen, das Sie mir einmal geschenkt haben. Erinnern Sie sich?«
Sie nickte. »Es war die Übersetzung eines englischen Romans, ein erster nachbarschaftlicher Gruß für Sie.«
Er ließ ihre Hand los, sie setzten sich. »Sind Sie immer noch auf diesem Gebiet tätig?« erkundigte er sich.
»Nein. In den letzten Jahren konnte ich keine Aufträge mehr annehmen.«
»Ich verstehe.« Sein Gesicht wurde ernst. »Das war eine überflüssige Frage, verzeihen Sie. Sie werden übergenug in Anspruch genommen sein. Und damit wären wir beim Thema…«
»Silvie«, flüsterte Beate und senkte die Lider.
»Ja.« Er betrachtete sie. Das dunkelblonde, von helleren Strähnen durchzogene Haar fiel seitlich in einer leichten Welle in ihr schmales Gesicht. Sie wirkte schutzbedürftig. »Ich wünschte, unser Wiedersehen hätte unter anderen Vorzeichen stattgefunden«, sprach er verhalten. »Aber erzählen Sie mir von Silvie, wann hat das angefangen mit ihr?«
Beate beantwortete ihm seine Fragen. Dann sah sie ihn flehend an. »Der behandelnde Arzt heißt Dr. Schütz, er hat seine Praxis in der Merowingerstraße. Werden Sie sich mit ihm in Verbindung setzen, Herr Dr. Fabricius?«
»Selbstverständlich. Ich werde keine Zeit verlieren«, versprach er.
»Wenn Sie die Operation vornehmen könnten«, sagte sie stockend, ohne den Blick von ihm zu lassen, »Ihnen würde ich vertrauen. Mein Gott, wenn Silvie doch wieder gesund werden könnte! Es ist so schrecklich, ihr Leiden ansehen zu müssen. Man steht so allein und hilflos daneben…«
»Sie haben Ihren Mann, und Sie haben Ihren Sohn, Frau Eckert, allein sind Sie doch nicht«, versuchte Clemens ihr einen schwachen Trost zu geben.
Beate wandte ihr Gesicht beiseite.
»Mein Mann«, kam es zögernd über ihre Lippen, »hat wenig Geduld. Er überläßt alles mir. Er kann nicht viel empfinden für dieses Kind, das er eigentlich gar nicht haben wollte.« Fast schamvoll brachte sie es hervor. »Den Jungen, ja, den liebt er, auf den ist er stolz. Der ist wie er, kräftig, gesund. Aber für Felix ist es auch nicht leicht. Er möchte mir immer helfen und kann doch nicht.« Ein schwacher Seufzer entrang sich ihr.
Clemens beugte sich in seinem Sessel vor und legte leicht die Hand über ihre Hand. »Lassen Sie den Mut nicht sinken«, redete er ihr zu. »Ich hoffe doch, daß Ihrem Töchterchen geholfen werden kann. Sie bekommen von mir Bescheid. Sie sind nicht mehr allein.«
So warm klang es, daß es Beate tatsächlich etwas leichter um das Herz wurde.
*
»Papa will Steven-House verkaufen«, platzte Uli heraus, als er mit seiner Mutter dem Ausgang der riesigen Flughalle zuschritt. Wie in jedem Jahr, hatte er auch diesmal die Sommerferien bei seinem Vater verbracht.
Ingeborg wandte ihrem Sohn mit einem Ruck den Kopf zu. »Warum? Er hat doch eine Menge hineingesteckt. Warum will er es jetzt wieder verkaufen?«
»Er hat einen Interessenten, der ihm eine große Summe dafür bietet«, sagte Uli, und er machte ein nachdenkliches Gesicht.
»So«, brachte Ingeborg trocken hervor. »Nun, es ist sein Haus. Er kann damit machen, was er will.«
Mit Bertold hatte sie nur noch Verbindung über ihren Sohn. Sie brauchte ihn nicht mehr. Sie hatte sich ihr Leben ohne ihn eingerichtet.
»Dir wird es ja leid tun«, bemerkte sie, als sie an ihrem Wagen angelangt waren und zusammen das Gepäck verstauten. »Du warst doch immer so gern dort.«
»Klar, einesteils schon«, gab Uli zu. »Aber wenn ich meinen Vater dann öfter sehe und nicht erst zwölf Stunden zu ihm fliegen muß, ist das auch ganz schön.«
Beate hob den Kopf, denn ihr Junge war größer als sie. Alle Jungen wuchsen ihren Müttern über den Kopf.
»Will er denn nach Deutschland zurück?« fragte sie.
»Ja. Er will das Geld in ein Unternehmen stecken, das in Schwierigkeiten ist, und Teilhaber werden. Mach nicht so ein skeptisches Gesicht, Mutti. Er geht kein Risiko ein, er hat sich genauestens informiert.«
Sie fuhren nach Hause. Beates Gedanken waren noch bei dem Gehörten. Ob er seine Freundin dann mitnehmen würde?
Später, beim Nachtmahl, sollte sie Näheres darüber erfahren.
»Die Gwendolyn ist nicht mehr da«, erzählte ihr der Sohn. »Sie hat mit einem Kollegen irgendwo ein Architekturbüro aufgemacht.«
»Ach, ist das aus«, entfuhr es Beate.
»Scheint so.« Uli zuckte die Achseln. »Jedenfalls sind keine Sachen mehr von ihr da. – Und Vater hat ja jetzt auch ganz andere Pläne«, fügte er hinzu. Wieder sah er mit diesem seltsam nachdenklichen Ausdruck auf seine Mutter. Es sah aus, als wollte er sie etwas fragen. Aber er unterdrückte es.
Es gefiel ihm, wieder zu Hause zu sein. Sie hatten längst eine schöne Eigentumswohnung, und es fehlte ihm eigentlich an nichts. Uli pfiff ein Liedchen vor sich hin, als er in seinem Zimmer alles Vertraute wiederfand, die Poster seiner Lieblingssänger an den Wänden, die Gitarre und die Stereo-Anlage. Nächstes Jahr würde er mit seinen Schulfreunden nach Norwegen zum Zelten fahren. Es mußte nicht immer Florida sein. Man würde schon sehen, wie das alles weiterging.
Das fragte sich auch seine Mutter. Hatte doch nicht gehalten, was Bertold für die »große Liebe« angesehen hatte? Er hatte nie
ein Scheidungsbegehren geäußert, demnach hatten sie an eine Heirat wohl nicht gedacht.
Man lebte getrennt, das war heute nichts Ungewöhnliches mehr. Ingeborg hatte sich schließlich damit abgefunden, und sie verkümmerte nicht dabei. Sie war wieder schlank geworden, sie pflegte und verwöhnte sich selbst. Das Bewußtsein, gut auszusehen, ließ ihren Gang freier werden und sie den Kopf hoch tragen. Sie hatte sich einen Bekanntenkreis aufgebaut, Jens Mertens gehörte dazu, ein geschiedener Mann, der um sie warb. Er war ein erfolgreicher Anlageberater, und er wünschte sich wieder eine Frau an seiner Seite.
»Warum trägst du deinen Trauring immer noch?« hatte er gefragt. »Laß dich endlich scheiden und heirate mich.«
Aber dazu hatte sie keine Neigung, und den Ring behielt sie an, auch wenn er mehr oder weniger ein sinnentleertes Symbol war. Der schmale goldene Reif paßte gut zu dem Saphir, den sie darüber trug. Schmuck, den sie sich gekauft hatte von den Zinsen auf ihrem Konto.
Sie konnte sorgenfrei leben, anders als Beate, an deren Kummer um Silvie sie innigst Anteil nahm.
Am nächsten Tag rief Ingeborg die Freundin an. Sie wußte, daß eine Entscheidung fallen