Sarah (eBook). Scott McClanahan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Scott McClanahan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783747201558
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sie mich, ob ich das Theaterstück dämlich fand. Sie sagte, dass wir, wenn wir von bloß einem Mann und einer Frau abstammten, eigentlich alle dauernd Inzest machten. Die erste Kindergeneration müsste sich ja miteinander paaren oder mit den eigenen Eltern. Wir lachten, und sie fragte mich, ob mir das Stück gefallen habe. Ich sagte, es sei kitschig und voller Klischees. Dann lachte sie und sagte: »Klischees. So wie unser Leben.«

      Als ich Sarah Johnson zum ersten Mal küsste, war es drei Tage vor Thanksgiving. Wir trafen uns bei ihr und schauten einen Film über einen Schulbus voller Kinder, die alle sterben, und dann noch eine Wiederholung von Jeopardy. Ich dachte: Filme über tote Kinder sind immer gut für die Romantik.

      Ich dachte: Komm, trau dich.

      Ich dachte das die ganze Zeit.

      Ich lehnte mich zu ihr und küsste sie auf die Wange. Sie lehnte sich zu mir und ich küsste sie auf den Mund. Es fühlte sich so an: zzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzip.

      Wir küssten uns und küssten uns, und dann sagte Sarah: »Warum lässt du die Augen dabei offen? Das ist seltsam.«

      Ich sagte, tut mir leid. Dann küssten wir uns weiter, aber ich machte wieder die Augen auf. Da fühlte ich mich auf einmal, als würde ich fallen. Und ich fühlte all die Klischees. Ich fühlte mich in all die Klischees fallen. Ich fühlte mich, als könnte ich nicht mehr atmen, Finger eng um meinen Hals. Fallen, ersticken. Alles war schön, so schön, aber dann kam Sarahs Stiefbruder in den Raum.

      Sarah sagte: »Ich hab gedacht, er ist weg.«

      Ihrem Stiefbruder war es ebenfalls peinlich: »Oh, tut mir leid, Sarah.«

      Er lief die Treppen hoch, und Sarah und ich setzten uns aufrecht hin und Sarah sagte, es tue ihr leid.

      Ich sagte ihr: »Bloß gut, dass er nicht ein paar Minuten später reingekommen ist, sonst hätte er meinen weißen Hintern rauf und runter –«

      Sarah sagte, halt die Klappe. Sie sagte, ich sei ein Idiot. Sie hatte recht. Also hielt ich die Klappe, idiot-style.

      Aber was Sarah natürlich nicht wusste: Ich war neunzehn. Ich hatte noch nie wen geküsst. An jenem Abend fuhr ich nach Hause und dachte: Jetzt, wo ich wen geküsst habe, muss ich vielleicht nicht sterben.

      Ich frage mich, ob ich damals, als ich durch die Berge fuhr, schon ahnte, dass ich Sarah zehn Jahre später heiraten und Kinder mit ihr haben würde. Dass wir in dem Haus leben würden, das ich gerade eben verlassen hatte. Ich frage mich, ob ich ahnte, dass ich eines Tages da­rüber schreiben würde, wie wir uns begegnet waren und wie uns das, was wir lieben, abhanden kommt. Und wie dieses Kapitel endet: mit einer Zeile aus einem Theaterstück, das sich zwei Leute vor langer Zeit angeschaut hatten. Es würde so enden. Was alles passiert ist, tut mir nicht leid. Denn da, wo sie war – da war mein Eden. In meiner Erinnerung lachen wir und verdrehen die Augen und tun so, als würden wir würgen, weil alles so kitschig und dumm ist. Es war alles ein Klischee. So wie unser Leben.

      Aber wer war sie eigentlich? Ihr Name war Sarah Johnson und sie wurde 1976 in West Virginia geboren. Ihre Eltern hießen ­Elphon­za und Corrie. Sie hatte einen Bruder namens Jack, den ich nie mochte, aber von dem ich immer sagte, dass ich ihn mochte. In Wirklichkeit mochte ich ihn aber wirklich nicht, und ich lasse ihn auch nicht in meinem Buch vorkommen.

      Aber wenn ich wirklich von Sarah erzählen wollte, würde ich vermutlich von ihrer frühesten Erinnerung erzählen. Sarah war damals vier und sie stand in der Dusche mit ihrer Tante Sherry. Sarah war so klein, sie reichte Sherry nur bis zur Hüfte. Sie waren gerade vom Strand zurück, und Sand war überall, in Sarahs Kleinmädchenhaar und in den Falten ihrer Kleinmädchenhaut und an den Rändern ihres Kleinmädchenbadeanzugs. Und Sarah war so jung, dass ihr Duschen mit ihrer Tante Sherry nicht peinlich war. Sherry zog Sarahs Badeanzug aus und Sherry zog ihren eigenen Bikini aus und so standen die zwei nackt nebeneinander unter dem Wasser, das aus dem Duschkopf brauste. Sherry schrubbte Sarah ab, dann seifte sie sie ein und wusch den Sand von ihr. Dann wechselten sie den Platz, und Sarah stand da und sah Sherry beim Duschen zu. Da bemerkte Sarah etwas zwischen den Beinen ihrer Tante. Eine weiße Schnur. Sherry stand zurückgelehnt und spülte sich die Haare, und Sarah hatte nur noch einen Gedanken. Sie wollte an der weißen Schnur ziehen, die da aus ihrer Tante baumelte. In ihrem Kopf wiederholte sie: »Ich will an der Schnur ziehen, ich will an der Schnur ziehen.«

      Sherry bemerkte ihren Blick und lachte über Sarah, weil die nicht wusste, was ein Tampon war. Nach dem Duschen sprach Sherry mit Sarah über die Zukunft und erklärte ihr, dass einige von uns nur innerlich bluten, aber Frauen seien so lebendig, dass sie auch nach außen hin bluten und neues Leben erzeugen können. Wie Götter. Sarah lächelte und sagte, sie wolle unbedingt ein Gott werden. Irgendwann später begriff sie, wie dämlich das alles war und dass ihre Tante ein verlogenes Biest war. Es war Folter. Nach der Dusche ging Sarah zu ihrem Vater und saß neben ihm. Sie liebte ihn mehr als alles auf der Welt.

      Sein Name war Elphonza. Eines Morgens, viele Jahre später, erwachte er in Sarahs Haus. Sarah war bereits erwachsen, und am letzten Tag seines Besuchs bei seiner Tochter begann Elphonza im Gästezimmer seine Sachen in den Koffer zu packen, da er bald abreisen würde. Ein paar Tage zuvor war er nachts aufgestanden und hatte einige kleine Eisbecher aus Sarahs Kühlfach gegessen. Am nächsten Morgen ließ er Sarah wissen, dass sie die Eisbecher besser wegwerfen sollte, denn die hätten Gefrierbrand. Sarah sagte: »Nein, Dad, du hast die Eisbecher für Hunde gegessen. Frosty Paws.« Aber daran dachte er jetzt nicht, auch nicht daran, dass Sarah oft über ihn lachte. Er war dabei, sich zu rasieren und seine Koffer zu packen. Dann nahm er eine Dusche. Sieben Tage war er bei seiner Tochter gewesen. Dann verließ er ihr Haus. Später am selben Nachmittag ging Sarah ins Gästezimmer, um die Bettbezüge zu wechseln. Sie zog sie von der Decke und den Polstern und warf sie auf den Boden. Als sie das Leintuch von der Matratze zog, fiel etwas heraus. Was zum … Es war ein riesiges Stück Cheddarkäse mit Zahnabdrücken an den Rändern.

      Sarah rief ihren Vater an.

      »Dad, hast du die ganze Zeit auf einem riesigen Stück Cheddar geschlafen?«

      Elphonza sagte: »Oh ja. Hab mich schon gefragt, wohin das Stück verschwunden ist.«

      Als Sarah klein war, saß Elphonza am Abend mit seinem Scotch da und hörte sich Willie Nelsons Version von Always on my Mind an.

      Die Luft im Zimmer wurde immer verrauchter und der Fernseher lief. Elphonza schaute sich Autorennen und andere Sendungen an. Bei einer Sendung erfuhr er, dass so etwas wie »neues Wasser« nicht existierte. Er erfuhr, dass das ganze Wasser auf der Erde ursprünglich aus der Milchstraße gekommen war, vor vielen Millionen Jahren. Es war auf dem Rücken eines riesigen Meteors zu uns gekommen, der in die Erde gerast war. So hatte das Leben begonnen.

      Deshalb bestehen wir heute alle aus Wasser. Wir bestehen aus dem, was vor langer Zeit auf uns zugerast und mit uns kollidiert ist. Es ermöglichte, dass Lebewesen geboren wurden, und nichts an ihnen ist neu. Elphonza erfuhr außerdem, dass der Preis all der chemischen Bestandteile, aus denen wir bestehen, ungefähr der eines Schokoriegels ist. Aus mehr bestehen wir nicht. Schokoriegel und Sterne.

      Sarah wusste natürlich, dass Elphonza eines mehr als alles andere auf der Welt liebte: Sarahs Mutter.

      Ihr Name war Corrie. Eines Tages begleitete Sarah sie zur Pediküre, und sie saßen nebeneinander in den riesigen Sesseln, zuerst die Füße im warmen Wasser, dann auf der Fußablage, sodass die Pediküre beginnen konnte. Die Frau, die sich um ihre Füße kümmerte, begann damit, die lose Haut von den Fersen und Fußballen zu reiben. Dann wischte sie zwischen Corries Zehen herum.

      Auf einmal schrie die Frau und sprang auf.

      Was zum Teufel?

      Sarahs