Noch einmal versuchte der Mann der Landwirtschaft schwachen Widerstand.
»Aber was … ja, bitte schön: Was soll ich denn eigentlich tun?«
»Etwas Zweckdienliches«, sagte in kalter Wut der Kanzler. »Zu was sitzt du denn schließlich da?«
An dieser Stelle brach das Stenogramm ab. Offenbar hatte der Stenograph bis dahin halb schlafend mitgeschrieben und erst jetzt bemerkt, daß sich hier Emotionen entluden, die wahrhaft die Grundfesten des Staates zu erschüttern drohten, Emotionen, die nicht einmal in Einheitskurzschrift hätten verzeichnet werden dürfen.
Tuzzi schüttelte nervös den Kopf und strich sorgfältig mit schwarzem Filzstift die letzten Zeilen durch. Zwar würde er das stenographische Protokoll ohnehin gleich selber in den Akten-Reißwolf hineingeben, aber allergrößte Diskretion war hier ernstlich geboten.
Diese verdammte Hitze, dachte der Legationsrat – sie wirkt demoralisierend bis ins Innerste des Staates.
Tuzzis Übersetzung in die geschichtswürdige Abstraktion: »Abschließend beauftragte der Ministerrat den Herrn Landwirtschaftsminister, umgehend Maßnahmen zur Erleichterung der klimatischen Situation zu ergreifen.«
Nun, da er seine Morgensünde abgebüßt hatte, nahm Tuzzi endlich seinen normalen Arbeitsrhythmus auf. Er entzündete den Spirituskocher hinter dem Tisch seiner Sekretärin – der Strommangel hatte solch altmodische Geräte wieder zu Ehren gebracht –, füllte die kleine Espressomaschine mit Mineralwasser aus einer Zweiliterflasche sowie Kaffee und setzte sie auf. Mit dem restlichen Preblauer Heilquellenwasser befeuchtete er, jeden Tropfen achtend, seine Zimmerpflanzen. Er besaß deren eine ganze Menge, nicht nur die ordinären Philodendren und Monsterae, wie sie üblicherweise in der trockenen Wüstenvegetation zentralgeheizter Büroräume dahinvegetieren, sondern auch Anspruchsvolleres: Campanulae, Farne und zierliche Judenbärte, und als Rarität sogar eine Stanhopea, eine Orchidee, die den eindrucksvollen indianischen Spezifikationsnamen »Coazonte coxoahitl bednar.« trug und wenn sie blühte, was sie freilich schon lange nicht getan hatte, nach Zimt, Schokolade, Vanille und Blume an sich duftete. Tuzzi war fest entschlossen, sie über die Große Hitze hinwegzuretten, obwohl das bei den schnell steigenden Preisen für Mineralwasser ziemlich teuer sein würde. (Im Hause selbst durfte nur ein einziger Wasserhahn und auch dieser nur zur Trinkwasserentnahme benutzt werden.) Dann goß er den brodelnden Kaffee in eine Tasse, setzte sich an den Schreibtisch, brannte die in ihrem Genußwert beträchtlich erhöhte erste Zigarette an, lehnte sich in seinen Biedermeierarmstuhl zurück, streckte die Füße unter dem Schreibtisch aus und holte Atem für die Bewältigung des Kommenden.
Er hatte jenen Rang der Ministerialbürokratie erreicht, in dem der Beamte nicht mehr mit nüchternen Zweckgeräten, sondern bereits mit Möbeln aus dem ehemals kaiserlichen Hofmobiliendepot umgeben wird, mit rötlich gemasertem Kirschholz zum Beispiel und graziös geschwungenen Sesselbeinen, noblen und soliden Dingen also, die in aller Bescheidenheit Legitimität und Kontinuität bezeugen. Ein glücklicher Zufall hatte überdies bewirkt, daß die Tapeten und die Bezüge der Sitzgarnitur in Tuzzis Lieblingsfarben Goldgelb und Dunkelgrün beziehungsweise Tannengrün und Ährengold gehalten waren, was insgesamt ein Inventar ergab, das sehr wohl geeignet war, einen Menschen von Geschmack positiv zu stimmen.
Der Legationsrat entzündete seine zweite Zigarette, straffte den Rücken und nahm endlich Einblick in die Schriftstücke, die der Amtsgehilfe Brauneis kurz zuvor auf seinem Schreibtisch deponiert hatte.
Es war sehr ruhig im ganzen Haus. Die letzten Spuren morgendlicher Mißstimmung entschwebten in den stillen Büroräumen des Interministeriellen Komitees für Sonderfragen wie der Rauch der Zigaretten. Ohne Hast wanderten die Gedanken höherer Beamtengehirne auf verschlungenen Aktenpfaden den geheimen Punkten zu, an denen der tägliche Gang der Dinge mit dem Ablauf des Weltganzen zu annähernder Deckungsgleichheit gelangt. Nur manchmal ratterte gedämpft eine Schreibmaschine los wie das Maschinengewehr eines weit entfernten Vorpostens, der sich verzweifelt gegen den Einfall chaotischer Kräfte zur Wehr setzt.
Und natürlich konnte der Legationsrat auch jetzt noch nicht einmal ahnen, daß in der Ministerratssitzung, deren Protokoll er eben säuberlich faltete und kuvertierte, ein neues Glied an jene Kette von Ursachen und Wirkungen geflochten worden war, die sich wenig später schon würgend um seinen Hals schlingen würde.
2 Soviel an dieser Stelle über die domestizierende und ordnende Macht des Grüßens. Man erfährt mehr darüber auf Seite 53.
3 Der Kanzler selbst erzählte einmal in einer gemütlichen Fernsehsendung, man erzähle sich im Volke, daß ihm, dem Kanzler also, einmal fälschlich der Selbstmord dieses erfolglosen Ministers gemeldet worden sei; er, der Kanzler, habe jedoch nur aufgeblickt und gütig gemeint: »No ja …, wenn er sich’s verbessern kann …?«
ZWEITES
ZWISCHENKAPITEL
DARSTELLEND DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES
INTERMINISTERIELLEN KOMITEES FÜR SONDERFRAGEN
SOWIE SEINE FUNKTIONEN
Wir müssen spätestens an dieser Stelle kurz auf die Entstehungsgeschichte jener Institution zu sprechen kommen, in deren Rahmen der Legationsrat Tuzzi seiner wichtigen Tätigkeit obliegt. Solche Rückblicke in die Vergangenheit sind natürlich ärgerlich, weil sie den glatten Lauf der Erzählung hemmen – und außerdem widersprechen sie aufs lästigste den Forderungen, die man an einen zeitgenössischen Roman mit Recht stellen darf. Aber wie soll man etwas Österreichisches beschreiben, und sei es etwas noch so Gegenwärtiges, ohne dauernd auf die besonderen Ursachen zu verweisen, die es hervorgebracht haben? Dies ist ein Ding der Unmöglichkeit, denn in allem Österreichischen ist der Anteil der Vergangenheit mindestens ebenso groß wie der der Gegenwart. Man kann ihr nicht aus dem Wege gehen.
Wann das Interministerielle Komitee für Sonderfragen eigentlich gegründet wurde, weiß man nicht. Eine große Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß es überhaupt nie gegründet wurde, sondern einfach entstanden ist. Man könnte sich vorstellen, daß irgendwann einmal, vielleicht schon vor Jahrhunderten, Beamte zweier Ministerien zusammengetroffen sind, um ein beide Ressorts berührendes Problem zu besprechen. Vielleicht ist im Verlaufe dieser Besprechung ein drittes Ministerium involviert worden, das dann ebenfalls einen für die betreffende Sachfrage zuständigen Beamten entsandte. Nach der Lösung des Problems (oder dem Entschluß, es als unlösbar zu betrachten) mag einer der drei Räte ausgeschieden sein, während die anderen unter Hinzuziehung eines anderen Ministerialen ein neu auftauchendes (oder aus dem alten herausgewachsenes) Problem in Angriff nahmen.
So ungefähr muß man sich die Entstehung des Interministeriellen Sonderkomitees denken. Obwohl es niemals wirklich institutionalisiert wurde, ist es in den Dämmerzonen zwischen den ministeriellen Kompetenzbereichen prächtig und durchaus organisch zu seinem heutigen Umfang herangewachsen, zu einer im Sinne Musils vorläufig definitiv provisorischen oder provisorisch definitiven Einrichtung, die sich in gewissem Sinne selbst als eigentlich nicht existent empfindet – insofern nämlich, als seine zahlreichen Beamten auch nach langer Tätigkeit nach wie vor dem Personalstande jener Ministerien angehören, von denen sie in das Sonderkomitee delegiert worden sind.
Die Arbeit zwischen den Ressortgrenzen und in den Kompetenzlücken verlangt natürlich besondere Fähigkeiten, etwa eine ausgeprägte Kombinationsgabe und einen sicheren Instinkt für das eben noch Mögliche; auch sind hochentwickeltes Taktgefühl, vielseitige Bildung und unbegrenzte Diskretion geradezu Voraussetzung, weshalb es sich denn fast von selbst versteht, daß die Ministerien nur hervorragende Beamte dem Komitee zuweisen.
Ihm, dem eigentlich nicht existenten und in keinem Amtskalender ausgewiesenen, anzugehören ist somit für jeden Zugeteilten eine besondere Ehre, denn er darf sich initiiert in den höchsten Grad der österreichischen Bürokratie und als ein Eingeweihter fühlen.
Außerdem hat er’s dort viel bequemer als in seinem Ministerium.