Die große Hitze. Jörg Mauthe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jörg Mauthe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903005594
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Bedürfnis nach Trost vorlag. Heute fühlte er sich nicht aufgeheitert, wohl aber ein wenig getröstet.

      Dann schritt der Legationsrat hinüber zum Eingang in die Büros des Interministeriellen Komitees, ergeben sich in sein Pflichtbewußtsein fügend, damit dem Prinzip Genüge leistend, dem schon seine Vorfahren gedient hatten. Er wußte nicht, daß er mit dieser Haltung in eine Folge von Ereignissen eintrat, die zuerst sein eigenes und dann das Schicksal der ganzen Republik entscheidend verändern sollten.

      An diesem Punkte jedoch geraten wir – der Autor nämlich – mit unserem eigenen Gewissen in Konflikt. Einerseits nämlich sollten wir, die wir uns von Beginn an entschlossen haben, unseren Lesern anständig und mit einer Freundlichkeit zu begegnen, die sie aus der neuen deutschsprachigen Literatur nicht mehr gewohnt sind, kurzerhand weitererzählen und nicht so taktlos sein, sie in einer Neugier verharren zu lassen, die zu erzeugen uns (hoffentlich) bereits geglückt ist. Andererseits erheischen dieselben Gründe und übrigens eine derzeit herrschende Literaturideologie vom Autor, daß er dem Leser die sozialen und ideologischen Beweg- und Hintergründe seiner Figuren möglichst umgehend darlege und schön transparent mache.

      Was also tun? Wie diesen Konflikt lösen?

      Wofür sich entscheiden?

      Wir entscheiden uns als guter Österreicher für einen Kompromiß, indem wir es, während der Legationsrat eben die Straße neben der Minoritenkirche kreuzt, dem Leser überlassen, das folgende Zwischenkapitel zu lesen oder zu überschlagen, um auf Seite 33 vor dem Eingang zum Interministeriellen Komitee Tuzzi wieder zu treffen.

      Mehr können wir leider auch nicht tun.

      EIN ERSTES

      ZWISCHENKAPITEL

      ENTHÄLT MATERIALIEN ZUR

      PERSÖNLICHKEITSBILDUNG EINES

      ÖSTERREICHISCHEN LEGATIONSRATS

      In den letzten Jahren der Ersten Republik – also vor 1938 – trafen einander täglich gegen 17.30 Uhr im »Café Ministerium« am Postsparkassenplatz drei hohe Offiziere aus dem nahen Kriegsministerium, um nach Dienstschluß eine Runde Preference zu spielen, ein Kartenspiel zu dritt, das sich besonders gut zur Entspannung eignet, weil es so langweilig ist. Die drei Herren kannten einander seit langer Zeit, zwei von ihnen waren sogar am selben Tage als Leutnants ausgemustert worden. Es verband sie eine innige und vielfach bewährte Freundschaft, an der jeder vor allem den Umstand schätzte, daß sie schweigsam war, weil man einander im Laufe der Zeit alles gesagt hatte, was zu sagen wichtig und notwendig gewesen war. So beschränkte sich denn das täglichen Gespräch auf knappe Fragen nach dem Befinden, die meist mit einem ebenso knappen »No ja« beantwortet wurden. Erst, wenn um Punkt dreiviertel sieben der Kellner an den Tisch trat und vom Generalmajor der Kavallerie S. und vom Feldmarschalleutnant L. die Kosten von je zwei Vierteln G’spritzten samt Trinkgeld in Empfang nahm, kam es zu einem kurzen, jedoch stets gleichbleibenden Dialog, den der General der Infanterie T. mit den Worten: »Warum gehts denn schon?« eröffnete, worauf der Generalmajor sagte: »Wir essen um halb acht, weißt?« und der Feldmarschalleutnant »Schließlich hat die Familie auch ein Recht, weißt?« hinzufügte. »Ehstandskrüppeln«, sagte daraufhin verachtungsvoll der General. Wenn er besonders gut aufgelegt war, setzte er hinzu: »Hätt’ ich mir nie denkt, daß solche Pantoffelhelden aus euch werden täten! Herr Ober – mir noch einen G’spritzten!« – »Du hast es halt g’scheiter gemacht«, sagte melancholisch der Generalmajor. »Servus.« Und gemeinsam mit dem Feldmarschalleutnant spazierte er nach Hause, zurück unter das Joch des Ehestands, während der General T. noch ein Viertelstündchen sitzen blieb.

      So ging das fünfzehn Jahre lang Tag um Tag, wenn nicht gerade ein Bürgerkrieg oder ein Putschversuch die Preference verhinderte.

      Im sechzehnten Jahr erschien der General T. drei Tage hintereinander nicht zur Preference. Am vierten Tag erhielten seine beiden Freunde auf dem Dienstweg die Mitteilung, daß er an einem Herzstillstand gestorben sei.

      Das Begräbnis erfolgte mit allen militärischen Ehren. Und ungeachtet ihrer ehrlichen Trauer waren der Feldmarschalleutnant und der Generalmajor voll des Zornes, denn auf der anderen Seite des Grabes standen eine gebrochene Witwe und ein reizendes vierjähriges Buberl.

      Das Buberl war der spätere Legationsrat Dr. Tuzzi.

      Die Generalswitwe, Tuzzis Mutter also, hatte ihren viel älteren Mann tief und treu geliebt (er sie übrigens auch). Nach seinem Tode fand sie am Leben keine Freude mehr, wurde eigensinnig und machte sich auf die Suche nach dem eigenen Tod. Sie begann damit, indem sie – es war nun 1938 und aus Österreich eine deutsche Provinz geworden – den Blockwart ihres Hauses ohrfeigte, weil sie ihn für schuldig hielt an der Austreibung einer jüdischen Familie. Der Blockwart hatte jedoch an diesem Geschehnis keinerlei Anteil gehabt, war aber gerade darum über die Ohrfeige der Generalin so empört, daß er im Gefühl gekränkter Unschuld unverzüglich dem Ortsgruppenleiter Meldung erstattete. Dieser Mann, ein sogenannter alter Illegaler, wollte die Sache gütlich beilegen (der verstorbene General war immerhin Maria-Theresien-Ritter gewesen und hatte überdies im Laufe der Piave-Schlacht das Eiserne Kreuz erhalten), suchte also mit einem Blumenstrauß in der Hand die Witwe auf, empfing jedoch bereits an der Wohnungstür zwei kräftige Watschen und trat den Rückzug an. Vielleicht hätte er die Sache auf sich beruhen lassen, wenn er nicht in voller Parteiuniform gewesen wäre und Nachbarn den geräuschvollen Vorgang beobachtet hätten; aber so war natürlich nicht nur seine Ehre, sondern auch die der NSDAP befleckt worden, weshalb er es für seine unabänderliche Pflicht hielt, die Geschichte dem Kreisleiter zu erzählen.

      Im weiteren Verlauf der Ereignisse ohrfeigte die Generalin diesen Kreisleiter, dann einen Gestapo-Beamten, einen Obersturmbannführer in Zivil sowie dessen Sekretärin und schließlich den Gauleiter, einen gewissen Buerckel.

      Als fromme Frau stiftete sie dem heiligen Antonius in der Alserkirche für jede geglückte Ohrfeige eine Kerze.

      Und nachher pflegte sie sich an das Klavier zu setzen und bei weit geöffneten Fenstern laut und mit schöner Altstimme die verbotene Bundeshymne der Ersten Republik zu singen.

      Tuzzi, klein und verwirrt, begriff von alledem nicht sehr viel. Aber er bewunderte seine Mutter maßlos, wenn er neben dem Klavier auf dem Teppich saß und zu ihr emporblickte, während sie die feierlich-langsame Haydn-Melodie anschlug und dazu etwas über eine wunderholde Heimaterde sang, die ohne Ende gesegnet sei. Er verstand wenig von diesem Text; aber die Wortfügung »… freundlich schmücket dein Gelände Tannengrün und Ährengold« überwältigte ihn; er konnte sich nichts Schöneres vorstellen als das, ja diese Worte wurden für ihn zu Synonymen des Schönen, Ergreifenden und Erhabenen überhaupt. Und sein Leben lang sollte Tuzzis Seele unausweichlich vom Duft, der Farbe und dem Klang von Tannengrün und Ährengold erfüllt sein, wenn er gerührt oder ergriffen war.

      Die Generalin hätte sich mit ihren Ohrfeigen möglicherweise bis zum Führer und Reichskanzler hinaufgearbeitet, wäre sie nicht endlich im Stiegenhaus des Gestapo-Quartiers am Morzinplatz nach einer Vernehmung gestrauchelt und solcherart zu ihrem Tode gekommen.

      Des Vaters älterer Bruder übernahm die Vormundschaft. Da dieser Onkel Tuzzi allein lebte – seine Ehe war kurz nach dem Krieg im gegenseitigen Einverständnis geschieden worden –, schickte er seinen Neffen in ein Schweizer Internat. Fünf oder sechs Jahre gingen an dem durch die Ereignisse betäubten Knaben vorbei wie ein unbegreiflicher Traum; immerhin lernte er leicht und willig ein perfektes Französisch und die schwere Kunst, auf sich selbst aufzupassen.

      Nach 1945 trat der Onkel wieder in den diplomatischen Dienst, aus dem ihn die Deutschen hinausgeworfen hatten, holte alsbald seinen Neffen in der Schweiz ab und verpflanzte ihn in das wiedereröffnete Jesuitengymnasium in Kalksburg, wo man ihm, wie schon vielen anderen vor ihm, ausgezeichnetes Benehmen, ordentliches Denken und eine gründliche Abneigung gegen jede Art von Frömmigkeit anerzog.

      Die Sommer- und Weihnachtsferien verbrachte der heranreifende Tuzzi in den oft wechselnden Auslandsresidenzen seines Onkels, der als Attaché, Botschaftsrat und in ähnlichen Funktionen einen nicht unbeträchtlichen Beitrag zu jener globalen Verösterreicherung leistete, von der noch